Tabaka Derby Messer's Gesammelte Horrorgeschichten - Band IV
Acht Gruselgeschichten & sieben Gedichte         ©  2008  Heike Hilpert, Selbstverlag
 Titel
 Vorwort
 Inhalt
 Totenwache
 Der blassblaue Schmetterling
 Der Ohrring
 Blondes Haar
 Tanz ohne Schritte
 Am Kamin
 Das Loch in der Wand
 Die geheime Sprache der Zeit
 Gedichte
 Information zur Autorin
 Literaturhinweis
 Impressum
Blondes Haar
THE NEWSPAPER*, Abendausgabe, 24.04.19..
Drama auf der »Rosalind«
  Wie wir soeben von unserer Nachrichtenagentur erfahren haben, ereignete sich in der letzten Nacht ein tödliches Drama auf dem Fährschiff »Rosalind«, das der hiesigen Reederei »Prescott's Dolphins« gehört. Ersten Angaben zufolge wollte sich ein Passagier gegen sechs Uhr abends über Bord stürzen; er konnte aber von Mitreisenden davon abgehalten werden. Wenige Stunden später verstarb der Unglückliche jedoch in seiner Kabine unter noch ungeklärten Umständen. Vermutlich ereilte ihn ein Herzstillstand. Nach unbestätigten Meldungen soll der Tote ein Geschäftsmann mittleren Alters aus Südengland sein. Die »Rosalind« war auf dem Weg von F... nach Dover. Morgen wird sie dort planmäßig eintreffen.

THE NEWSPAPER, Morgenausgabe, 26.04.19..
Die »Rosalind« trifft ein - Harold Penn ist tot
  Gestern Abend lief die Fähre »Rosalind« pünktlich in den Hafen von Dover ein. Wegen eines tragischen Todesfalles, der sich während der Atlantiküberfahrt ereignete, hat das Schiff schon vor zwei Tagen von sich reden gemacht. (Wir berichteten darüber in unserer Abendausgabe vom 24.04.) Sofort nach Ankunft der »Rosalind« wurde die Leiche des Verstorbenen zur Autopsie freigegeben. Die Ermittler erhoffen sich hiervon entscheidende Hinweise zur Klärung des Falles. Darüber hinaus sollen in den nächsten Tagen die Passagiere und die Crew der »Rosalind« zu dem Unglück befragt werden.
  Bei dem Toten handelt es sich um den allseits bekannten Textilfabrikanten Harold Penn. Der 43-jährige, unverheiratete Unternehmer war auf einer Geschäftsreise. Das Schicksal seiner Firma Penn's Fashion ist bis auf weiteres ungewiss.


THE NEWSPAPER, Abendausgabe, 26.04.19..
Neues zum Tod des Textilfabrikanten Penn
  Vor zwei Tagen starb Harold Penn (43) an Bord der »Rosalind« vermutlich im Schlaf an Herzversagen. Die Polizei hat bereits einige Passagiere und die gesamte Schiffsbesatzung zu dem Vorfall verhört. Obwohl der Fabrikant nach Augenzeugenberichten am selben Nachmittag einen Selbstmordversuch unternommen hatte, deuten bisher offenbar alle Indizien darauf hin, dass er eines natürlichen Todes starb.
  Die Nachricht vom Ableben Harold Penns löste Trauer und Bestürzung aus. Penn hatte einen großen Freundeskreis und genoss ein hohes Ansehen in der Geschäftswelt. Seine Kleiderspenden für die Armen gewannen ihm allgemeine Anerkennung und viel Sympathien in England sowie im Ausland.


THE NEWSPAPER, Morgenausgabe, 27.04.19..
Unglück auf der »Rosalind« - ein Augenzeuge berichtet
  Gestern erhielt unsere Redaktion Besuch von einem Passagier der »Rosalind«. Der bekannte Autor Mark Fowler (39), der unfreiwillig Zeuge des Dramas um Harold Penn (43) wurde, verbrachte drei Tage mit dem Verstorbenen auf der Fähre. Er überließ uns folgenden Bericht, den wir hier ungekürzt wiedergeben.

  Ich war einer von 448 Passagieren, als das Fährschiff »Rosalind« am 21.04.19.. aus dem Hafen von F... auslief. Niemand von uns konnte an diesem sonnigen, lauen Morgen ahnen, dass einer der Reisenden Dover nicht lebend erreichen würde. -
  Die tagelange Fahrt über den Atlantik drohte wie immer sehr öde zu werden, denn die Aussicht auf den azurnen Himmel und die trägen Wellen mag zwar anfangs recht faszinierend sein, aber mit der Zeit sehnt man sich nach Land, sei es auch nur eine kleine Insel. Bloß Wasser, so weit das Auge reicht - da fühlt man sich schnell einsam. Deshalb sah ich mich gleich am ersten Tag nach Mitreisenden um, durch deren Gesellschaft ich mir die Zeit ein wenig verkürzen konnte.
  Es waren hauptsächlich Afrikaner an Bord, deren Sprache ich nicht verstand. So kam ich mit einigen englischen Geschäftsleuten in Kontakt, die allesamt glänzender Laune waren. Einer von ihnen wurde mir als Harold Penn vorgestellt. Dieser Name war mir aus verschiedenen Zeitungen ein Begriff. Ich hatte schon mehrmals über die Erfolgsgeschichte seines Unternehmens und ebenso über sein soziales Engagement gelesen, doch getroffen hatte ich ihn vorher nie, was nicht verwunderlich ist, denn ich bewege mich normalerweise eher in Künstlerkreisen. In den ersten Stunden unserer Bekanntschaft erlebte ich Penn als adretten Herrn, der für sein Alter ziemlich jugendlich wirkte. Seiner groß gewachsenen, schlanken Statur und der edlen Züge wegen mochte er als gut aussehend durchgehen, obgleich ich diese Einschätzung lieber den Damen überlasse. Er redete mit tiefer, samtiger Stimme und unterhielt die Zuhörer bestens mit seinen Anekdoten aus dem Fernen Osten.
  Im Laufe des nächsten Tages ging allerdings eine erschreckende Verwandlung mit ihm vor. Aus dem aufgeschlossenen, leutseligen Weltmann wurde binnen Stunden ein schweigsamer Einzelgänger, der auf dem Schiff einsam Deck für Deck ablief. Wir anderen vier verstrickten uns in Mutmaßungen, meinten schon mal etwas von einem Schiffskoller gehört zu haben und wiegten uns in der trügerischen Sicherheit, dass einem ausgemachten Glückspilz wie Penn nie etwas zustößt und dass einer wie er immer genau weiß, was er tut. Nicht anders ist es zu erklären, dass wir so schnell aufgaben und kein weiteres Gespräch mit ihm suchten, nachdem er uns ein- oder zweimal einfach hatte stehen lassen und vorübergegangen war. Rückblickend muss ich sagen, wir hätten ihn nicht so gewähren lassen sollen, hätten ihn besser im Auge behalten müssen, hätten ihn nicht allein lassen dürfen. Seine plötzliche Verschrobenheit weckte zwar unser aller Interesse, aber unsere Hilflosigkeit besiegelte indirekt vielleicht sein Schicksal. - Nun will ich berichten, welch seltsames Benehmen Penn bald an den Tag legte.
  Zuerst fiel uns auf, dass sein Blick sich veränderte. Seine großen, dunklen Augen spähten verwirrt nach links und rechts, nach oben und nach unten. Oft wandte er sich um. Es machte den Eindruck, als ob er etwas wahrnähme, was uns anderen verborgen blieb, doch wollte er nicht sagen, worum es sich dabei handelte. Wenn er erzählte, verlor er schnell den Faden und unterbrach sich selbst durch fahrige Bewegungen. Still zu sitzen fiel ihm immer schwerer, bis es ihn schließlich an keinem Ort mehr hielt. Ob er nach etwas suchte oder sich verfolgt fühlte, konnten wir nicht feststellen. Wir sahen ihn mit den Händen gestikulieren, mal abwehrend, mal nach etwas greifend. Er redete mit jemand Unsichtbarem. Was er sagte, konnten wir aus der Ferne allerdings nicht verstehen. Sein Auftreten wirkte grotesk, beinahe verrückt. Wir kamen letztlich überein, ihn in Ruhe zu lassen, denn wir vermuteten, dass er an Wahnvorstellungen litt, was uns, wie ich zugeben muss, Angst bereitete. So hielten wir von da an Abstand - bis zu jenem denkwürdigen Abend des 23.04., als er gegen sechs Uhr Anstalten machte, über die Reling zu klettern, was nicht nur uns, sondern auch die anderen Reisenden sofort auf den Plan rief.
  Zwei Marokkaner hinderten Penn glücklicherweise an seinem Vorhaben und packten ihn ziemlich unsanft am Kragen. Der eilends herbeigeholte Kapitän ließ ihn dann von Matrosen in seine Kabine bringen. Wir vier boten uns an, ihn fortan zu bewachen, was weniger auf christliche Nächstenliebe, sondern mehr auf unser schlechtes Gewissen zurückzuführen war. Der Kapitän war damit einverstanden und wir nahmen unsere Aufgabe wirklich ernst. Jeder von uns sollte nun sechs Stunden Dienst pro Tag haben. Das schien uns angesichts der Brisanz der Situation ein geringes Opfer zu sein. Es musste uns gelingen, Penn von einem erneuten Selbstmordversuch abzuhalten, solange er sich an Bord der »Rosalind« befand. In Dover könnten Experten sich um ihn kümmern. Hier auf der Fähre aber lag sein Leben in unserer Hand.
  Gleich in der ersten Nacht hielt ich Wache in Penns Kabine. Er war guten Mutes und sogar wieder einmal ansprechbar, als er sich zu Bett begab. Wir plauderten noch ein wenig über Shakespeare. Im Halbschlaf murmelte er etwas wie »blondes Haar«. Ich glaubte, dass er schon träume, setzte mich an den Tisch, knipste die mattgelbe Leselampe an und holte ein Buch hervor. Als ich ihn Stunden später wecken wollte, gab er keine Antwort mehr. Ich rüttelte ihn. Da fiel das Licht auf seine gebrochenen Augen. Er war im Schlaf gestorben - irgendwann zwischen Mitternacht und sechs Uhr morgens. Der Schiffsarzt konnte nur noch den Tod feststellen und tippte nach kurzer Leichenschau auf Herzversagen.
  Am selben Nachmittag räumten wir vier Penns Quartier auf, packten seine Sachen zusammen, verstauten alles in seinen zwei Koffern und ordneten zu guter Letzt die Papiere. Zwischen den vielen Akten, unmittelbar unter dem Terminkalender, fanden wir ein Notizbuch mit schwarzem Ledereinband. Clayton, ein Schuhfabrikant aus Nordengland, meinte, es könne nichts schaden, mal einen Blick hineinzuwerfen ... Einerseits waren wir peinlich berührt, als wir merkten, dass es sich bei den Aufzeichnungen um rein private Einträge dreht. Andererseits versprachen die Berichte der vergangenen Tage Licht in die Sache zu bringen. Eine Analyse jener persönlichen Notizen scheint ja die einzige Möglichkeit zu sein, die seltsamen Geschehnisse aufzuklären. So einigten wir uns schließlich darauf, dass Clayton das Tagebuch an sich nehmen und gleich nach unserer Ankunft in Dover dem für diesen Fall zuständigen Inspektor aushändigen sollte.
  Ich kann dem nur hinzufügen, dass ich Harold Penns Tod tief bedauere. Penn war ein ganz besonderer Mensch und ein wichtiges Mitglied unserer Gesellschaft. Leider ist es mir nicht vergönnt gewesen, ihn näher kennenzulernen. Trotzdem schätze ich mich glücklich, zumindest für kurze Zeit seine Bekanntschaft gemacht zu haben. Wir alle werden ihn nie vergessen.

Mark Fowler
Dover, 27.04.19..


THE NEWSPAPER, Morgenausgabe, 28.04.19..
Die letzten Tage des Harold Penn
  Ein Informant, der nicht namentlich genannt werden will, spielte uns gestern nach Redaktionsschluss neues brisantes Material über Harold Penn zu. Dabei handelt es sich um die letzten privaten Aufzeichnungen des verstorbenen Textilfabrikanten. Jenes Notizbuch fanden Mitreisende bei seinen Unterlagen und übergaben es auch bereits der örtlichen Polizei zur Auswertung. Wir lassen im Folgenden Harold Penn selbst sprechen.

Aus dem Tagebuch von Harold Penn
21.04.19.., 10 Uhr abends
  Sind heute Vormittag in F... ausgelaufen. Das Wetter war gut, wenig Wind, nur ein paar weiße Wölkchen. Noch spüre ich keine Anzeichen der Seekrankheit. Hoffentlich wird es eine ruhige Überfahrt. - Dieses Mal verspricht es recht kurzweilig zu werden. Habe ein paar englische Geschäftsleute und den bekannten Schriftsteller Mark Fowler kennengelernt. Wir haben uns mit Geschichtenerzählen die Zeit vertrieben. Selten hatte ich auf meinen Reisen so interessante Gesellschaft. Wahrscheinlich werde ich erst zu Hause dazu kommen, meine Unterlagen zu sortieren. - Ich bin froh, dass die geschäftlichen Angelegenheiten mit Fernandez & Co. so schnell geregelt wurden, und bringe gute Nachrichten mit heim.

22.04.19.., 7 Uhr morgens
  Habe heute Nacht unruhig geschlafen. Wurde von seltsamen Träumen umfangen. Fühlte ein Kribbeln und Kitzeln am ganzen Körper. Sah einen dünnen Schleier aus goldenen Fäden vor mir und neben mir und um mich herum. Fast schien es mir wie feines, seidiges Haar. Es glänzte und glitzerte, funkelte und knisterte. Es berauschte mich und zog mich an. Welch sonderbarer Traum! So lebendig und betörend, so eindrucksvoll und verstörend! Wenn ich die Augen schließe, spüre ich es wieder. Mir ist, als wäre ich nur einen einzigen Wimpernschlag vom Glück entfernt! - Werde jetzt frühstücken und mich dann mit meinen Reisebegleitern treffen. Ob ich ihnen von meinem Traum berichten soll? Besser nicht.

22.04.19.., 8.30 Uhr morgens
  Was geht bloß vor auf diesem Schiff? Ich bin rastlos und aufgewühlt seit letzter Nacht. Kaum einen Bissen konnte ich beim Frühstück hinunterschlucken. Jeder Krümel blieb mir im Halse stecken. Es war da! Vor meinen Augen und hinter mir, neben mir, überall ... Kaum wahrnehmbar glitt es leise an mir vorbei. Ich sah es schimmern und goldene Fünkchen sprühen. Ich konnte nur schauen, mich umblicken, lauschen und fühlen, wie es einem Windhauch gleich an mir vorüberzog. Die Fäden, das Haar - was immer es ist! Kam es aus meinem Traum in die Wirklichkeit oder war es auch gestern schon an Bord? Was ist es, das mich so umgarnt? Was will es? Wem gehört es? Und warum bemerken es die anderen Passagiere nicht?

22.04.19.., 12 Uhr mittags
  Bin den ganzen Vormittag mit meinen neuen Bekannten auf Deck herumspaziert. Körperlich war ich bei ihnen, geistig verweilte ich in einer anderen Welt. Ich hatte keine Lust mehr, mit ihnen zu plaudern, und war in Gedanken versunken. Draußen lag die blaue See. Träge bewegten sich die Wellen des tiefen Meeres. Schaumkronen tanzten darauf. Das Schiff tat sich schwer, der Motor brummte. Der Wind heulte klagend, die Luft schmeckte salzig. Der Himmel war azurn, endlos und eisig. Die Sonne brannte erbarmungslos, heiß und gefährlich. Die Schatten waren schwarz. Das Meer war so dunkel, rauschte mystisch und bedrohlich. Das Schiff schaukelte. Und das weiche, duftende Haar streifte mich, umwallte mich, berührte mich sanft, glänzte verführerisch. Es kam immer näher, versperrte mir die Sicht und fiel auf mich. In diesem Moment riss ich mich von den anderen los. - Ich will nicht mehr mit ihnen zusammen sein. Sie lenken mich nur ab. Sie stellen unsinnige Fragen, wollen wissen, ob es mir gut geht und wonach ich mich umsehe. Sie haben kein Recht, mir solche Fragen zu stellen. Ich ziehe von nun an die Gesellschaft jenes goldenen Haares vor, wer auch immer es über mich geworfen hat. Habe den Eindruck, dass es sich verdichtet. Das Glitzern wird heller - ein Blinken hier, ein Funken da! Diese Reise ist mein Schicksal. Das Haar ist mein Wegweiser; wohin es mich führt, dahin werde ich gehen.

22.04.19.., 10 Uhr abends
  Bin ich Jäger oder Gejagter? Den ganzen Tag war ich auf der Suche nach dem blonden Haar. Ich wollte das Wesen finden, dem es gehört. Doch seit ich mich dazu entschlossen habe, es aufzustöbern, kann ich seine Spuren nirgends mehr entdecken. Kein Duft, kein Schimmer, kein Kribbeln, kein Knistern. Es ist weg! Manchmal kann ich sein Leuchten aus den Augenwinkeln beobachten, aber drehe ich mich um, dann ist es plötzlich fort. Wie tief meine Enttäuschung ist! Wie sehr ich mich vor Sehnsucht verzehre! Flieg in meinen Traum, wenn ich mich zur Ruhe begebe, du blondes Haar!

23.04.19.., 9 Uhr morgens
  Habe lange geschlafen und süß geträumt! Geträumt von roten Sonnen und grünen Meeren, Pflanzen mit blauen Blättern, Bäumen, deren Äste sich bewegten, als ob sie sprächen, geträumt von hellblauen, schäumenden Himmelszelten und silbernen, auf Seen schwimmenden Pforten, geträumt von Palästen aus Muscheln und Korallen, von zierlichen Wesen, die auf Fischen ritten, von singenden Quallen und wippenden Seepferdchen. Und ich sah mich, umringt von all den Wundern, inmitten der Wesen mit dem goldenen Haar einen kultischen Reigen tanzen. Ich war überglücklich. Was für ein schönes Traumgebilde! Welch heitere Welt es mir vorgaukelt! - Heute will ich noch einmal versuchen, den Ursprung des Haars zu finden.

23.04.19.., 22.30 Uhr
  Den ganzen Tag bin ich auf dem Schiff umhergeirrt, um dieses Wesen aufzuspüren und das Geheimnis seines Haars zu ergründen, doch es verbarg sich vor mir. Blickte ich nach vorn, schien es hinter mir zu sein. Wandte ich mich um, huschte es gerade seitlich an mir vorbei. Es verströmte einen betörenden Duft und raunte unverständliche Worte in einer seltsamen Sprache mit tiefer, glucksender Stimme, die wie das Tosen eines Wildbachs klang. Da war kein körperloser Schleier aus goldenen Funken, sondern ein Geschöpf! Ich rief nach ihm, breitete die Arme aus wie ein Schüler, der auf die Erleuchtung durch seinen Meister wartet. Ich schrie in den Himmel und hinaus über die wogende See, auf dass der Wind mein Verlangen nach Erkenntnis zu diesem Wesen tragen mochte.
  Und dann, als es Abend wurde und die rötliche Sonne wie ein Ball auf den Horizont zurollte, da sah ich es! Zwischen den golden glänzenden Wellen, auf den glitzernden Schaumkronen schwamm etwas! Es bewegte sich geschmeidig durch das Wasser, kam immer näher und reckte zwei marmorweiße Arme aus den gierigen Fluten. Endlich habe ich verstanden, was das rauschende Meer, dessen Bote diese Kreatur ist, mir sagen wollte: »Komm zu mir!«, murmelte es. »Unten auf dem Grund ist das Reich der Glückseligkeit!«
  Da zögerte ich keine Sekunde und kletterte über die Reling, aber zwei Marokkaner vereitelten mein Vorhaben. Bevor es mir gelang zu springen, hievten sie mich schon zurück auf das Deck. Meine Landsleute bewachen mich jetzt rund um die Uhr. Bis zum Ende der Reise werde ich wohl nichts anderes mehr sehen als meine Kabine und die Bücher mit meinen Geschäftsnotizen, die indes alle Bedeutung für mich verloren haben.
  Nur das Bullauge gewährt mir den Blick nach draußen. Heute Abend habe ich lange hinausgeschaut, stumm durch das trübe Glas gestarrt. Ich sah, wie der heulende Wind die graue See aufpeitschte. Ich sah, wie sich die Wolken zu düsteren Bergen am Horizont türmten. Ich sah den Polarstern dann und wann blinken. Wir kommen bald nach Hause, dem Norden immer näher. Doch meine Seele bleibt hier bei diesem einzigartigen Wesen aus den schlummernden Tiefen südlicher Gewässer.
  Hätte ich eine zweite Gelegenheit - ich würde wieder springen!

Hier enden Harold Penns Aufzeichnungen. Noch in derselben Nacht verschied er.



THE NEWSPAPER, Abendausgabe, 29.04.19..
Nachtrag zum Tod des Textilfabrikanten Penn
  Die näheren Umstände des Ablebens von Harold Penn werden immer mysteriöser. Angesichts des Autopsiebefundes steht die örtliche Polizei vor einem Rätsel, das möglicherweise niemand zu lösen vermag. Penn, der seit Beginn seiner Heimreise auf der »Rosalind« wahrscheinlich an Wahnvorstellungen litt, starb laut Zeugenaussagen in seinem Bett, während er schlief. Die Obduktion ergab aber jetzt, dass Wasser in seine Lunge eingedrungen war. Daher lautet die offizielle Todesursache nun: Tod durch Ertrinken. Folglich ist Harold Penn wohl ein zweites Mal gesprungen - aus der Wirklichkeit in eine Wahnwelt und aus dem Schlaf ins Jenseits.



* Diese Zeitung ist eine Erfindung des Autors. (Anm. v. T. D. M.)        [«]
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