Tabaka Derby Messer's Gesammelte Horrorgeschichten - Band V
Zehn Gruselgeschichten - Best of T. D. Messer           ©  2013  Heike Hilpert
    Titel
    Vorwort
    Inhaltsangabe
    Im Schatten
    Der Flaschengeist
    Mr Howard im Paradies
    Im Pappkarton
    Gespräch mit einer Tapete
    Bilderwelten
    Einsamer Wanderer im All
    Der blassblaue Schmetterling
    Das Loch in der Wand
    Die geheime Sprache der Zeit
    Information zur Autorin
    Literaturhinweis
    Impressum
Die geheime Sprache der Zeit


Hörst du die Uhren ticken?
Verräterisch ist ihr Ticktack.
Die Zeit wird wie Schritte verhallen,
bald laut, bald leise - klipp, klapp!


  Treten Sie nur ein und entschuldigen Sie sich doch nicht für Ihre Verspätung! Eine halbe Stunde, sagen Sie? Ach, was ist schon eine halbe Stunde! Es spielt keine Rolle, ob Sie pünktlich sind oder nicht. Ehrlich gesagt, ich hab's nicht mal bemerkt. Wie Sie gleich sehen werden, ist das auch kein Wunder, denn ich habe sämtliche Uhren aus meinem Hause verbannt. Es besteht für sie keine Notwendigkeit mehr - im Gegenteil! Ihr unentwegtes Ticken macht mir Angst. Natürlich ist es sinnlos, sich zu verabreden, wenn man nicht weiß, wie spät es ist. Aber schauen Sie hinaus auf die Straße! Dies ist ein kleiner Ort, ein sehr kleiner Ort. Man muss hier wirklich keine Termine vereinbaren - man begegnet sich durch Zufall. Bedienen Sie sich doch mit den Plätzchen! Sie sind zwar ein bisschen zu dunkel geraten, aber so ist das eben, wenn man keine Uhr hat. Sie haben ja recht! Ich sollte Ihnen nicht die Zeit stehlen und mit meinem Bericht beginnen.
  Nun, ich weiß eigentlich gar nicht mehr, wann die Sache ihren Anfang nahm. War es an dem Tag, als ich hier angelangt bin? Oder war es an dem Tag, als dieser junge Herr seine alte Uhr in Bills' Geschäft brachte? Oder war es an dem Tag, als Bills endgültig den Verstand verlor? Verzeihen Sie mir meine Zerstreutheit und meine Gedankensprünge! So kann ich Ihnen die Geschichte nicht begreiflich machen und genauso wenig Ihren Lesern. Ich werde Ihnen besser alles der Reihe nach erzählen.
  Es war ein stürmischer Frühlingstag, als ich aufbrach, um Carla zu besuchen. Ich bin nie bei ihr angekommen. Fragen Sie mich nicht, wo sie wohnt - ich hab's inzwischen vergessen. Es ist so viele Jahre her! Und vermisst hat sie mich auch nicht. Niemand hat mich je vermisst, denn niemand hat nach mir gesucht. Ich bin einfach verschwunden aus London. Meine ganze verdammte Verwandtschaft war sicher froh darüber. Im Grunde weiß ich nicht mal, wer Carla überhaupt ist. Erinnern Sie sich an das verheerende Zugunglück vor zwölf Jahren, bei dem hier in der Nähe dreihundert Menschen den Tod fanden? Ich erinnere mich nicht mehr, wie die Bahn entgleiste. Ich weiß bloß, dass ich aus einem umgekippten Wagen herauskroch. Mein Gepäck war verbrannt, meine Papiere ebenso. Ich besaß nur noch diesen Brief von Carla, den ich in der Jackentasche trug, und eine kaputte goldene Armbanduhr. Ich schleppte mich bis zum nächsten Ort, dieser kleinen Stadt an der Themse, und bin all die Jahre da hängen geblieben. Was soll ich in London? Ich weiß ja seit dem Unfall nicht mehr, wer ich bin, und wenn es dort Leute gibt, die mir einst nahestanden, dann haben sie mich vor langer Zeit für tot erklären lassen. -
  Vielleicht war es falsch, den Unfallort einfach zu verlassen, aber darüber macht man sich in einer solchen Lage keine Gedanken. Als ich vor den rauchenden Trümmern jenes Zuges stand, sah ich als Erstes auf die Uhr. Es war um drei, doch der Sekundenzeiger rührte sich nicht mehr vom Fleck. Was ich nun tat, mag Sie wunderlich anmuten. Ich ging fort! Ich hatte das Gefühl, weder helfen zu können noch gebraucht zu werden. Meine Reise war vorzeitig zu Ende und ich wollte erfahren, wo dieser Zug mich ausgespuckt hatte. So lief ich geradewegs hinab vom Bahndamm und querfeldein, bis ich schließlich hierhergelangte. Ich schwankte wie betäubt durch die engen Gassen, als ich Ausschau hielt nach einem Uhrmacher, der mein einziges Hab und Gut wieder in Gang bringen konnte. Zum Glück brauchte ich nicht lange zu suchen, denn schon kurz nach dem Ortseingang kam ich an der ersten Werkstatt vorbei. Ich betrat den Laden, sah mich darin um und steuerte dann auf den Meister zu, der gar nicht zu bemerken schien, wie aufgelöst ich war. Er betrachtete nur meine Uhr, während ich ihn betrachtete.
  Marvin Bills war sein Name, das hatte ich draußen auf dem Türschild gelesen. Er übte seinen Beruf mit Hingabe aus, das sah ich sofort. Bills war klein und beleibt, hatte schütteres Haar und ein rundes, dickliches Gesicht. Seine graublauen Augen versteckten sich hinter einer Brille mit starken Gläsern und goldener Fassung. Er begutachtete meine Uhr, und als er damit in seiner Werkstatt verschwand, huschte ein Lächeln um seine Lippen.
  Ich hatte nun genügend Muße, mich in dem Laden umzuschauen. Damals wurde mir erst bewusst, dass solch ein Uhrengeschäft doch eine ganz eigene Welt ist. Da waren so viele Exemplare und keines glich dem anderen. Es gab große Standuhren, Pendeluhren und Wanduhren, aber auch kleine Armbanduhren, Wecker, Taschenuhren und Stoppuhren, darüber hinaus Tischuhren und dekorative Zeitmesser für den Garten, die Diele oder den Kaminsims. Und jede einzelne dieser Uhren hatte ihren bestimmten Takt. All die schwarzen und weißen Plastikgehäuse brachten ein künstliches, modernes Ticktack hervor; die hölzernen Gehäuse ließen dumpfe, volltönende Geräusche erklingen; aus den goldenen Uhren drang das süßeste Ticken; die porzellanenen kratzten mechanisch. Sie alle vereinigten ihre Stimmen zu einer eigenartigen Symphonie im Rhythmus der Zeit.
  Es dauerte nicht lange, bis Bills das Problem behoben und meine Uhr repariert hatte. Mit einem freundlichen Lächeln gab er sie mir zurück und nannte mir den Preis. Da fiel mir ein, dass ich ja gar kein Geld dabeihatte! So bot ich ihm die Uhr als Pfand an. Vielleicht lag es an meinem interessierten Blick, vielleicht hatte er auch bloß Mitleid mit mir - jedenfalls schlug er mir vor, meine Schulden doch lieber in seinem Laden als Verkäuferin abzuarbeiten. Das nahm ich dankbar an, zumal er mir ein Zimmer zur Verfügung stellte und mich somit vor der Obdachlosigkeit bewahrte.
  Bills war von Anfang an freundlich zu mir. Das galt ebenso für seine Frau. Beide stellten sie keine unangenehmen Fragen nach meiner Herkunft, meinem Zuhause und meinen Zukunftsplänen. Das war auch gut so, denn ich hätte eine derartige Frage gar nicht beantworten können. Sie gaben sich damit zufrieden, dass ich nun einmal da war, als ob mich irgendein schicksalhafter Wind hergeweht hätte. Sie lehrten mich alles, was eine Verkäuferin wissen muss, und die Arbeit machte mir großen Spaß. Mangels besserer Alternativen hielt ich es für richtig, zu bleiben. Heute weiß ich, dass dies ein Fehler war. Im Nachhinein ist man eben immer schlauer.
  Verzeihen Sie mir, dass ich so ausschweifend erzähle! Wahrscheinlich interessiert Sie das alles wenig. Sie wollen bestimmt nur erfahren, wann Bills verrückt wurde, was ihn zu jener Bluttat trieb und welche seltsamen Dinge in der Folgezeit geschahen. -
  Ich glaube, dass all die schlimmen Ereignisse an einem regnerischen Donnerstag im Sommer des nächsten Jahres ins Rollen kamen. Es war ein ruhiger Tag und bloß ein einziger Kunde besuchte uns. Er war um die dreißig und machte einen ganz gewöhnlichen Eindruck. Sein Aussehen, seine Kleidung - nichts an ihm ließ vermuten, dass er uns alle aus der Bahn werfen würde. Der junge Mann gab eine alte Tischuhr zur Reparatur, die er ein paar Tage zuvor von einer entfernten Verwandten geerbt hatte. Er war recht betrübt darüber, dass dieses hübsche Stück offenbar völlig kaputt war.
  Der Kunde packte die Uhr aus und stellte sie auf den Ladentisch, woraufhin Bills sie mit Wohlwollen in Augenschein nahm. In der Tat handelte es sich dabei um ein Prachtstück. Ich hatte vorher noch nie eine so sonderbare und schöne Uhr gesehen. Bills anscheinend auch nicht, denn er vergaß plötzlich alles um sich herum und vertiefte sich sichtlich in die Betrachtung des eigenartigen Exemplars.
  Es war aus schwarzem Ebenholz geschnitzt und rundum mit goldenen Zierbeschlägen geschmückt. Seltsame Ornamente aus Schlangenlinien wanden sich um das Gehäuse. Das Zifferblatt, das die Form eines Karos hatte, war gänzlich aus Gold. Am meisten faszinierten mich aber die mir unbekannten Zeichen, die als Ersatz für die Zahlen dienten. Es waren weder arabische noch römische Ziffern, nicht mal indische. (Daraus schlussfolgerte ich, dass diese Uhr aus einem sehr fernen, exotischen Land stammen musste und einen weiten Weg zurückgelegt hatte, bevor sie in die Hände jenes Mannes gelangt war.) Die pfeilförmigen Zeiger standen auf sechs und bewegten sich nicht von der Stelle. Sie schienen mir etwas krumm zu sein, doch das war vielleicht eine optische Täuschung. Merkwürdigerweise schwang das dreieckige Pendel aber ohne Unterlass ganz gleichmäßig und zuverlässig und gab dabei ein gedämpftes Ticken von sich, das Bills offenkundig vom ersten Augenblick an in Bann schlug. Er legte sein linkes Ohr an das Gehäuse, horchte und verzog den Mund zu einem glückseligen Grinsen, das ich nie zuvor bei ihm gesehen hatte. Irgendwie war mir die Sache unheimlich, doch was hätte ich tun sollen? Bills nahm die Uhr in Reparatur und meinte gegenüber dem Kunden, er könne sie am kommenden Montag abholen. Der junge Erbe war erleichtert und lief frohen Mutes hinaus - wir sollten ihn nicht wiedersehen!
  Von diesem Tag an veränderte sich Bills. Obgleich er die unheilvolle Uhr noch am selben Abend in Gang gesetzt hatte, hörte er nicht mehr damit auf, sie zu betrachten und ihrem Ticken zu lauschen. Das Geschäft überließ er fortan seiner Frau und mir. Nach und nach stapelten sich die Reparaturaufträge, aber keiner davon wurde je erledigt. Das wirkte sich mit der Zeit freilich sehr negativ aus. Der Umsatz ging zurück, die Kunden blieben weg. Bald wurde auf der anderen Straßenseite ein neuer Uhrenladen eröffnet. Bills stand kurz vor der Pleite.
  Sie können sich ja denken, dass die Atmosphäre im Hause merklich gespannt war. Bills' Frau war mit den Nerven am Ende. Kein Wunder, wo sie doch zusehen musste, wie ihre Existenz den Bach runterging, und das nur, weil ihr Mann wie gebannt vor dieser Uhr verharrte, statt wie früher zu arbeiten. Natürlich gab es jeden Abend Streit, natürlich wurde die Zankerei immer heftiger. Selbstverständlich hielt ich mich heraus. Es wäre ein Fehler gewesen, sich einzumischen, aber es war auch nicht leicht, neutral zu bleiben. Ich konnte verstehen, dass Mrs Bills die Uhr verfluchte und dass sie nach ihrem Eigentümer forschte, indem sie Telefonbücher wälzte und in Tageszeitungen Inserate schaltete. Freilich hatte sie recht, wenn sie sagte, das Grundübel - jene Uhr aus Gold und Ebenholz - müsse schnellstmöglich beseitigt werden.
  Ich konnte nichts tun. Es war ja nicht mein Laden. So ließ ich den Dingen ihren Lauf und beobachtete mit Sorge die ungute Entwicklung. Der ehemals so nette, umgängliche Meister war kaum ansprechbar, ging nicht mehr aus dem Haus, saß Stunde um Stunde vor der verflixten Uhr, lauschte ihrem dumpfen Ticken und dem dunklen, melancholischen Glockenschlag und folgte mit den Augen aufmerksam den pfeilförmigen Zeigern, die sich nicht ganz synchron zu dem Ticktack bewegten und für meine Begriffe immer noch krumm wirkten. Was war es bloß, das Bills so fesselte? Was hörte er, was wir nicht zu hören vermochten? Damals wusste ich es nicht - heute weiß ich es.
  Ach, nun kommt der schwierigste Teil meines Berichtes! Ich schätzte Marvin Bills sehr. Das möchte ich an dieser Stelle ein letztes Mal betonen. Zu mir war er stets freundlich. Er half mir, als kein anderer da war. Er gab mir eine Unterkunft und eine ordentliche Arbeit. Er war ein guter Chef. Das alles wiegt natürlich nicht die schreckliche Tat auf, das Verbrechen, das er beging, die Schuld, die er auf sich lud. -
  Es war an einem Freitagabend im Oktober. Bills stritt sich wieder mit seiner Frau. Das Thema blieb immer gleich. Sie wollte die besagte Uhr wegbringen. Man könne sie irgendwo lagern und vielleicht später einmal versteigern, meinte sie. Er solle sich um sein Geschäft kümmern, solange es noch zu retten sei, sie seien ja fast pleite und ob ihm das egal sei. Sie machte ihm Vorwürfe - er blieb stur. Sie beschimpfte ihn - er drehte durch. Ich lief gerade den Flur entlang und sah es durch den Türspalt. Ich sah, wie er einen spitzen Gegenstand vom Tisch nahm und ihr mitten ins Herz bohrte, woraufhin sie stumm zusammensackte. Ich wusste nicht, ob es ein Messer, eine Schere oder ein Schraubenzieher gewesen war. Ich wusste nur, dass er mich nicht bemerkt hatte. Geistesgegenwärtig schlich ich mit schlotternden Knien und klopfendem Herzen die Treppe hinauf in mein Zimmer, schloss mich darin ein und verhielt mich ruhig. So schnell wie möglich musste ich das Haus verlassen. Also warf ich mir einen Mantel über, zog meine Schuhe an und stieg mit polternden Schritten die Stufen wieder hinunter, hustete dabei ein paarmal laut und marschierte auf diese Weise schnurstracks hinaus. Ich denke, dass Bills mich durch das Fenster beobachtete, doch er schöpfte sicher keinen Verdacht, denn ich bin abends oft noch spazieren gegangen. Der Mantel und die Straßenschuhe haben mich gerettet. Hätte er mich in Nachthemd und Pantoffeln über den Hof laufen sehen, wäre ich jetzt dort, wo seine Frau ist.
  Ich stürmte zur Polizeiwache und verständigte Inspektor Taylor von den grässlichen Ereignissen. Er zögerte keine Sekunde und machte sich sofort auf zu Marvin Bills. Dieser hatte inzwischen die Leiche seiner Frau vermutlich in einen Teppich gewickelt (in der Diele fehlte plötzlich der Läufer) und sie beseitigt. Wo er die Tote versteckt hat, ist bis heute ungeklärt. Zum Vergraben hätte die Zeit nicht gereicht. Vielleicht hat er sie in der Themse versenkt. Mit Sicherheit wissen wir das aber nicht. Bestimmt hatte Bills den Streifenwagen schon vom Fenster aus gesehen, denn als wir ankamen, lief er in Panik aus dem Haus und genau in Taylors Auto. Er wurde erfasst, überschlug sich und blieb regungslos auf der Straße liegen. Er war tot und ich dachte, das sei das Ende, doch es war erst der Anfang.
  Ich war diejenige, die den Inspektor in den Laden führte, als er mich nach einem Motiv für das grausame Verbrechen fragte. Ich zeigte ihm die alte Uhr, von der Marvin Bills so besessen gewesen war. Mich gruselte jetzt bei ihrem Anblick. Was mich aber noch mehr entsetzte, war die Tatsache, dass sich in Taylors Gesicht gleich vom ersten Moment an dieselbe Verzückung abzeichnete, wie ich sie seinerzeit bei Bills gesehen hatte!
  Der Inspektor beschlagnahmte die Uhr sofort. Er meinte, er müsse sie als Beweisstück konfiszieren. Ich hatte jedoch das Gefühl, er tat es aus einem anderen, eher eigennützigen Grund. Wie Sie gewiss den Aussagen seiner Kollegen entnommen haben, gab er sie von da an nicht mehr aus der Hand. Es fand nie ein Prozess statt und der Fall wurde schnell zu den Akten gelegt. So war es Taylor ein Leichtes, sich der Uhr zu bemächtigen.
  Es verstrichen ein paar Monate. Der Winter kam und ging. Ich hatte mittlerweile das Geschäft übernommen, denn es war mir gelungen, mich mit dem einzigen Verwandten, der von der Familie Bills noch übrig war, zu einigen. Es gab viel zu tun, die Arbeit lenkte mich ab. Ich hatte keine Zeit, darüber nachzudenken, was mit der Uhr geschehen war und wie es um den Inspektor stand. Mir graute auch davor, denn eines war mir indessen klar: Dass Bills verrückt geworden war, lag allein an dieser Uhr. Irgendetwas ging von ihr aus. War ihr unregelmäßiges Ticken schuld oder ihr dumpfer Stundenschlag? Oder wurde es von den unbekannten Zeichen auf dem Zifferblatt verursacht?
  Schließlich zog der Frühling ein und die Sache nahm eine neue schreckliche Wendung. Es hieß, Inspektor Taylor habe im Streit seine Mutter getötet. Ich weiß nichts weiter davon, weiß nicht, wann, wo und wie er es tat. Doch ich ahne, warum. Ich frage mich oft, wer die Uhr wohl geerbt hat. Wer auch immer es ist - sie hat ihm sicher kein Glück gebracht. Sie ist ein Übel, denn sie weckt das Böse in ihren Besitzern, setzt deren Aggressionen frei und treibt sie in den Wahnsinn. Das ist aber nur die halbe Wahrheit ...
  Ein weiteres Jahr verflog und im folgenden Frühling habe ich das Geschäft aufgegeben. Nicht, dass es sich nicht getragen hätte. Nein, es lief sogar richtig gut. Da war etwas ganz anderes. Sehen Sie mich an, wie ich hier einsam und allein dahinlebe! Ich kann nicht mehr arbeiten, keine Verabredungen treffen und keine Termine einhalten. Ich habe alle Uhren aus meinem Hause verbannt, das sagte ich bereits, und ich gehe ihnen aus dem Wege. Ich meide den Bahnhof und die Kaufhäuser und wage es nicht, auf die Turmuhr am Marktplatz zu blicken. Ich schalte nicht mal das Radio ein und den Fernseher habe ich abgeschafft. Das alles mag Ihnen wie das schrullige Verhalten einer Einsiedlerin erscheinen, doch ich weiß, was ich tue. Ich fürchte mich nicht ohne Grund!
  Mit Schaudern erinnere ich mich heute an die verzerrten Symphonien in dem kleinen Laden von Marvin Bills. Das Ticken und Schwingen der Perpendikel, das Klingen und Tönen der Glockenschläge waren für mich damals nur Geräusche. Erst als Bills schon tot und die böse Uhr längst weg war, habe ich begriffen, was da wirklich vor sich geht. Mag sein, dass sie die Erste gewesen ist und dass es mit ihr angefangen hat, doch es gibt viele ihrer Art und es werden immer mehr. Die Uhren ticken »Ticktack, ticktack!«, aber sie tun es nicht rein mechanisch, tun es nicht unbewusst. Ihrem Ticken wohnt ein Rhythmus inne. Vergleichen Sie es mit Morsezeichen! Sie kommunizieren miteinander und auch mit uns. Sie verkünden Dinge durch ihr unheilvolles Ticktack - Dinge, die ich nie wissen wollte; Dinge, die Sie besser nicht wissen sollten. Nein, ich kann Ihnen nicht offenbaren, was sie mir in ihrer Geheimsprache mitgeteilt haben. Ich kann Ihnen bloß raten, Ihre Armbanduhr abzulegen und dazulassen, so dass ich sie vernichten kann. Kaufen Sie sich eine neue, wenn Sie in der nächsten Stadt ankommen. Gehen Sie lieber nicht in den Laden gegenüber, denn hier am Ort sind alle Zeitmesser verseucht! Es breitet sich aus wie eine Epidemie und wird eines Tages sämtliche Uhren auf der Welt erfassen. Sie werden den Kosmos ins Chaos stürzen. Es ist unmöglich, zu entfliehen.
  Ob ich Uhren hasse? Nein, sie können ja nichts dafür. Sie sind nur die Boten, die die schlechten Nachrichten überbringen, verschlüsselt in ihrem Ticken und ihrem mahnenden Stundenschlag. Sie sind es nicht, die uns nach und nach den Verstand rauben. Es ist die Zeit selbst, die für alles verantwortlich ist. Sie ist unser Feind, die Uhren sind bloß ihre Waffen.
  Sie halten mich für wahnsinnig und wollen jetzt gehen? Gehen Sie ruhig, gehen Sie schnell! Sie werden der Zeit nicht entkommen. Niemand wird ihr entkommen.

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