Tabaka Derby Messer's Gesammelte Horrorgeschichten - Band V
Zehn Gruselgeschichten - Best of T. D. Messer           ©  2013  Heike Hilpert
    Titel
    Vorwort
    Inhaltsangabe
    Im Schatten
    Der Flaschengeist
    Mr Howard im Paradies
    Im Pappkarton
    Gespräch mit einer Tapete
    Bilderwelten
    Einsamer Wanderer im All
    Der blassblaue Schmetterling
    Das Loch in der Wand
    Die geheime Sprache der Zeit
    Information zur Autorin
    Literaturhinweis
    Impressum
Im Pappkarton

In einer vierdimensionalen Welt
malt ein untalentiertes Kind
ein naives Bild auf eine
dreidimensionale Leinwand.


  David Kerr war einst ein erfolgreicher Unternehmer gewesen, doch Schulden hatten ihn in den Ruin getrieben. Nun war er gestrandet und besaß nur noch das, was er auf dem Leibe trug, und einen ausgebeulten Pappkarton, worin er seine wenigen Habseligkeiten verstaute. Für ihn gab es keinen Weg zurück in die bürgerliche Gesellschaft. Die Familie hatte ihn verstoßen, die Firma war pleitegegangen und seine »Freunde« ließen ihn seither im Stich. Sein ehemaliger Geschäftspartner hatte sich mit der restlichen Kohle abgesetzt und nippte jetzt irgendwo unter rauschenden Palmwedeln genüsslich am Tequila, während er den Whisky aus der Flasche trank. Im Nachhinein hatte sich sein bisheriges Leben als glatter Selbstbetrug entpuppt. Deshalb wollte er nichts mehr besitzen und nie wieder jemanden um sich haben.
  Kerr war allein - ein einsamer Wolf. Er lief durch die Gegend mit strammer Haltung und aufrechtem Gang, so als führe er im Stillen Krieg mit der ganzen Welt. Seine Kleidung war schäbig und verschmutzt, der Magen oftmals leer, aber sein Gehirn funktionierte bestens - genau wie in alten Zeiten. Mit Hohn und Verachtung strafte er die Gesellschaft, denn er betrachtete sie aus der Sicht eines Bettlers. Er war so tief gesunken, dass jeder auf ihn herabsah. Doch von Unterwerfung keine Spur! Sein Blick war kalt. Wie Eiskristalle funkelten seine grauen, beinahe farblosen Augen. Störrisch sträubten sich die schütteren, aschfahlen Haare und reckten sich in alle Richtungen. Eine große Adlernase beherrschte sein Gesicht, während sich der Mund mit den spröden Lippen und den toten Zähnen gleich einem Abgrund auftat. Der sehnige, schiefe Hals verlieh Kerrs schlaksigem Körper etwas Groteskes. Die knochigen Hände mit den knotigen Fingern wirkten wie mit Haut überzogene Krallen und passten hervorragend zu den spindeldürren Armen. Große Füße in ausgetretenen Schuhen rundeten sein Erscheinungsbild ab.
  Die langen, durch Müßiggang und Selbstmitleid geprägten Tage verbrachte David vornehmlich zwischen den Gerümpelhalden der Konsumgesellschaft und den Suppenküchen religiös motivierter Hilfsorganisationen. Nächtens musste er dann unter freiem Himmel schlafen, was bei regnerischem Wetter ziemlich ungemütlich ist. Daher zog er es vor, einen trockenen Unterschlupf zu suchen, wobei er nicht mal vor Hausfriedensbruch und Sachbeschädigung zurückschreckte. Meistens wurde er bei leer stehenden Ferienhäusern schnell fündig. Ihren gut situierten Eigentümern war der unwillkommene Gast natürlich noch lästiger als Ratten im Gebälk, weil viel schwerer zu fassen, denn der Eindringling wanderte stets von einem Ort zum anderen.
  Nun war Kerr in T. eingetroffen und nahm ein majestätisches Anwesen, das einen gottverlassenen Eindruck machte, in Augenschein. Der herrschaftliche Park war verwildert und Unkraut wucherte auf den Gehwegen. Das Gitter, welches das Grundstück umgab, war die formvollendete Arbeit eines recht talentierten Kunstschmieds, obgleich es inzwischen ein bisschen klapprig aussah. Das Haus war alt. Der Zahn der Zeit nagte seit Jahrzehnten daran. Sein Dach war schadhaft, der Putz bröckelte und einige Fensterscheiben waren zerbrochen. Im Großen und Ganzen erachtete Kerr es dennoch für stabil genug; es würde wohl nicht gleich einstürzen, wenn er die Tür öffnete. Für ein künftiges Nachtquartier war es wie geschaffen, denn niemand kümmerte sich mehr darum. Hier würde ihn also gewiss keiner stören oder gar vertreiben.
  Wie ein Dieb schlich Kerr, den Pappkarton unter dem Arm, um das Anwesen herum. Das Herz hüpfte ihm vor Freude. Ein neues Zuhause, das ihm gehörte! Wer hätte gedacht, dass man so etwas einfach im Vorbeigehen findet! An einem Seitenweg hielt er inne. Er rüttelte an dem Gitter, das daraufhin schwankte und klirrte. Dann warf er seinen Pappkarton über den Zaun und schwang sich an den Eisenstäben hoch. Der dünne, gelenkige Mann übersprang die Absperrung mühelos und schnappte sich seine Habe.
  In freudiger Erwartung lief er durch den Garten. Je näher er an das Gebäude herankam, desto stärker fühlte er sich davon angezogen. Es schien, als hießen die grauen Mauern ihn willkommen; es schien, als harrten sie seit einer Ewigkeit seiner Ankunft und würden ihn zum Verweilen einladen. Da bestand gar kein Zweifel: Dieses Haus war nicht wie gewöhnliche Häuser. Ihm wohnte eine seltsame Kraft inne, die David förmlich in Bann schlug. Die unzähligen schiefen Fenster mit den blinden und teilweise zersplitterten Scheiben blickten ihn an wie trübe viereckige Augen. Das von Unwettern zerschundene Dach mit den ausgebrochenen Ziegeln wirkte wie eine dilettantisch angefertigte Perücke und das poröse Mauerwerk mit dem beschädigten Verputz wie die warzige, faltige Haut einer tausendjährigen Hexe. Den Mund des »Gesichts« bildete eine schwere, verwitterte Holztür, die von einem Portikus bewacht wurde, dessen klobige Säulen in Figurenkapitellen endeten, welche einen noch gröberen Giebel trugen, der mit seiner Plumpheit den Eingang zu erdrücken drohte. Kerr betrat die breite Freitreppe, deren steinerne Stufen unter seiner Last klapperten, durchschritt den Portikus und stemmte die Hände gegen die Tür, die sich, ohne Widerstand zu leisten, seinem Willen unterwarf.
  Nun sah er sich von mächtigen, altehrwürdigen Mauern umgeben. Dieses Haus war mehr als nur ein Unterschlupf, mehr als eine wertlose Immobilie, mehr als ein aus einzelnen Bauteilen zusammengesetztes Etwas. Es besaß ein Innenleben. Seine Wände hatten Augen und Ohren. Kerr betrachtete das Haus und es betrachtete ihn. Einen Eid hätte er darauf geschworen, obwohl er nicht hätte erklären können, was ihn zu einer derart widersinnigen Vermutung veranlasste.
  Etwas beunruhigt sah er sich um. Zwei lange Treppen mit verbogenen Geländern führten in das mittlere Stockwerk. Darüber lag eine weitere, in eine offene Bogengalerie mündende Etage. Von der Decke hing ein verstaubter Lüster herab, der sich wie eine gigantische kristallene Spinne auf und ab zu bewegen schien, was David sehr erschreckte. Er wandte sich ab und versuchte sich einzureden, dass seine Phantasie ihm einen Streich spielte, denn es war inzwischen spät geworden und er war müde.
  Von draußen drang das orangefarbene Licht der Abendsonne durch den Eingang in die Vorhalle. Kerr schloss die Tür, um zu verhindern, dass Anwohner sein widerrechtliches Eindringen bemerkten. Dann ging er die linke Treppe hinauf, weil sie etwas stabiler wirkte als die rechte. Im oberen Stock angelangt, betrat er das erstbeste Zimmer. Hier wollte er sich gleich zur Ruhe begeben, denn sein neues Heim ließe sich ohnehin besser bei Tage erkunden.
  Das Nachtquartier war kalt und leer, schmutzig und ungemütlich. Die Wände sahen schwarz und feucht aus. Die Dielen knarrten mahnend bei jedem Schritt, den David tat. Er stolperte über etwas Weiches, das er im Dämmerlicht als eine muffig riechende Matratze identifizierte. Die Luft stank nach Moder; deshalb öffnete er das kleine Kammerfenster, das hierbei laut quietschte. Indessen wurde es immer finsterer. Im Dunkeln tappte er durch den Raum und legte sich auf die verdreckte Matratze. Mit einem Lächeln auf den Lippen schlief er auf der Stelle ein.


* * *

  In den folgenden Wochen richtete sich Kerr häuslich ein. Niemand kam, um nach dem Rechten zu sehen. Niemand behelligte ihn mit Fragen. Es schien, als ob keiner an seiner Anwesenheit Anstoß nähme. Dieses Haus gehörte nun so lange ihm, bis jemand es ihm streitig machte. Und aus der Beschaffenheit des Parks ließ sich schließen, dass damit eher nicht zu rechnen war und er hier endlich Ruhe finden konnte.
  Die Villa hatte über zwanzig Zimmer. Die meisten davon waren in einem erbärmlichen Zustand. Davids Ehrgeiz wurde dadurch nur angestachelt. Mit viel Geschick und Fleiß säuberte er die Räume, reparierte die für den Sperrmüll reifen Möbel und verwandelte binnen weniger Wochen das Innere des Gebäudes in eine behagliche, ansehnliche Heimstatt.
  Nichtsdestotrotz war das Anwesen von einer düsteren, geheimnisvollen Atmosphäre umgeben, die Kerr nach und nach aufs Gemüt drückte, sein Gefühl des Losgelöstseins vertiefte und der Einsamkeit eine neue Dimension verlieh. Bald plagten ihn nachts seltsame Träume. Er sah sich durch unwirkliche Landschaften wandern, über Städte fliegen und durch das Dach auf sein Bett stürzen. Jedes Mal schrak er dann ängstlich aus dem Schlaf auf und war heidenfroh, nur von einem lebhaften Albtraum gepeinigt worden zu sein. Wahrscheinlich besaß dieses Haus eine ihm innewohnende, verborgene Energie, für deren Erforschung Spukfreunde, Parapsychologen und dekadente Millionäre gerne ihre Konten geplündert hätten.


* * *

  Matt drang das Licht durch die milchigen, verschmierten Glasscheiben. Im Morgengrauen erhob sich David Kerr schweißgebadet von den Kissen. Er hatte wieder einen dieser Träume erlitten, die ihn seit geraumer Zeit quälten. Um sich von der Unversehrtheit der Zimmerdecke zu überzeugen, blickte er unwillkürlich nach oben. Doch da war ein Loch - eine unregelmäßig geformte Lücke, die sich durch den Dachstuhl fraß und genau über seinem Bett den Plafond durchbohrte! Mit Schrecken wurde ihm klar, dass sie gerade groß genug war, um einem Menschen Durchlass zu gewähren. Träumte er etwa immer noch? Zweifelnd rieb er sich die müden Augen und sah dann abermals hinauf, doch alles blieb unverändert - auch das Loch in der Decke.
  Die ersten Sonnenstrahlen brachen nun hervor und erfüllten den Raum mit einem grauweißen Schleier. Kerr stand auf und öffnete das Fenster, um sich zu versichern, dass er tatsächlich wach war. Frische Luft strömte sogleich herein und wirbelte den im Lichtschein silbrig glitzernden Staub auf. David lehnte sich hinaus und bestaunte wie gebannt den Garten. Die Bäume, deren Kronen sich gestern noch so lebendig im Wind gewiegt und deren Blätter leise geraschelt hatten - heute wirkten sie unecht und reglos. Sie waren keine natürlichen Pflanzen mehr, sondern nur die geschmacklose Ausstattung eines verwahrlosten künstlichen Parks. Die Häuser in der Ferne sahen aus wie Bastelarbeiten aus Papier und die Hügellandschaft am Horizont ähnelte einem Scherenschnitt. Selbst die Wolken am Himmel waren schneeweiß und ganz regelmäßig geformt, so wie man sie bloß auf den Abbildungen in Kinderbüchern findet. Die Sonne hing zitronengelb am blauen Firmament und schickte einzelne, nadelfeine goldene Strahlen auf die Erde. Auch sie musste einer kindlichen Zeichnung entsprungen sein. Das alles war nicht die reale Welt, sondern eine Täuschung - ein schlechtes dreidimensionales Gemälde, das irgendein Witzbold vor dem Fenster aufgestellt hatte, um ihm einen Possen zu spielen!
  Kerr streckte die Hand aus. Da stieß er an etwas, das sich wie dickes Papier anfühlte. Offenbar war eine bebilderte Wand vor ihm postiert. Seltsam nur, dass er gar nicht erkennen konnte, wo sie begann und wo sie endete. Die Sicht auf die äußere Welt war ihm völlig versperrt und die dicke Barriere schien undurchdringlich. Er war von dieser Zeichnung umschlossen!
  David war mulmig zumute. Warum hatte er nicht schon eher bemerkt, dass hier etwas nicht stimmte? Gestern Abend war jedenfalls noch alles wie immer gewesen; demzufolge konnte die Verhüllung erst in der letzten Nacht vonstattengegangen sein. Viele Fragen quälten ihn und wirre Gedanken schossen ihm durch den Kopf. Für einen Moment glaubte er, sich möglicherweise den Zorn der Hausbesitzer zugezogen zu haben, welche Theorie er jedoch schnell verwarf. Plötzlich fühlte er sich bedroht von den Mauern, deren Eroberung er vor Wochen so bejubelt hatte. Wie groß war damals die Freude über jene Beute gewesen, wie verheißungsvoll die Aussicht, für alle Zeiten eine bequeme Bleibe gefunden zu haben! Jetzt aber hatte er den Eindruck, dass er in eine gefährliche Falle getappt war.
  Er musste dieses Gebäude unverzüglich verlassen. Mit ganzer Wucht stieß er die Kammertür auf und rannte eilig die Stufen hinunter zum Eingang. Die klemmende Haustür gab nicht gleich nach; daher stemmte er sich mit aller Macht dagegen und siehe da! Sie ging auf. Kerr stürmte ins Freie, wobei er sofort gegen die Pappwand prallte. Er tastete sich daran entlang, quer durch den gemalten Garten bis zum Zaun. Dort schaffte er es endlich, mit der Faust die Hülle zu durchbohren und mit dem Arm ein großes Loch hineinzureißen, durch das er wieder in die Außenwelt gelangte.
  Als er sich umsah, lag das Anwesen idyllisch und romantisch-verwittert da - genau wie gestern. In diesem Augenblick fiel ihm ein, dass sich der Karton mit seinen Siebensachen noch darin befand. Es ärgerte ihn maßlos, dass er in der Panik sein ganzes Hab und Gut vergessen hatte. Umkehren wollte er aber nicht. Nun besaß er also gar nichts mehr außer den Kleidern, die er auf dem Leibe trug. Entmutigt hockte er sich hin. Der Schock am frühen Morgen war ihm auf den Magen geschlagen. In sich zusammengesunken, kauerte er auf dem feuchtkalten Straßenpflaster. Tau lag auf den Wiesen und glitzerte.
  Die friedliche Umgebung beruhigte David allmählich. Ungläubig blickte er zurück. Das Haus wirkte verschlafen und harmlos. Nichts deutete darauf hin, dass dort irgendwelche verborgenen Mächte walteten. Erste Zweifel beschlichen ihn. Hatte er das alles vielleicht nur geträumt? War es nicht möglich, dass sich sein Gewissen mit einem Albtraum meldete, der ihm das unrechtmäßig in Besitz genommene Heim verleidete? Wie dem auch sei, er würde nie wieder einen Fuß auf dieses Gelände setzen. So erhob er sich und lief gemächlichen Schrittes den Gehsteig entlang. Er brauchte ein neues Obdach, bevor es dunkelte, denn auf der Straße wollte er nicht übernachten. Außerdem war es notwenig, sich etwas Essbares zu beschaffen. Was die Passanten ihm nicht spendierten, müsste er sich eben anderweitig besorgen.


* * *

  Im Laufe des Vormittags erbettelte David ein paar Münzen. Er saß in der Fußgängerzone auf dem Erdboden und erzählte den Leuten von seinen geheimnisvollen Erlebnissen. Die Geschichte war so phantastisch, dass niemand sie für wahr hielt, aber Kerr verstand es perfekt, sein Publikum mit Worten und Gesten zu fesseln. Alle hörten gespannt zu und er verdiente genügend Geld für Speis und Trank.
  Darüber hinaus hatte er gehofft, auf diesem Wege das eine oder andere über das eigenartige Haus in Erfahrung zu bringen, doch zu seiner Enttäuschung fand er nichts Neues heraus. Die Einwohner der Stadt ahnten nicht, was für eine Bewandtnis es mit jenem Anwesen hatte. Keine Legende rankte sich um das besagte Gemäuer; nie hatte sich dort etwas Außergewöhnliches zugetragen. Irgendwann war der letzte Besitzer schließlich gestorben und seine Erben ließen das Gebäude seither verfallen.
  David war unzufrieden mit seinen Nachforschungen und stellte sich dieselben Fragen wie zuvor. Warum wirkte von außen alles echt, von innen jedoch wie eine Zeichnung? Gab es außer der Welt, wie man sie kennt, vielleicht noch eine andere, auf Malerei beruhende Welt mit einer Grenze aus Pappe? Und wozu diente eine solche künstliche Realität? Ihm wurde ganz schwindlig, wenn er länger darüber nachdachte, und seine Gedanken drehten sich im Kreis. Es war das Beste, einfach die Stadt zu verlassen und den Vorfall abzuhaken. In einer anderen Ortschaft warteten bestimmt neue Herausforderungen auf ihn.
  David lief durch die Gassen, ohne müde zu werden, überquerte Plätze und Straßen. Der Weg führte ihn stur geradeaus. Dabei orientierte er sich an der Bergkette am Horizont, die im Sonnenlicht plastisch hervortrat. Plötzlich hielt er jedoch verwirrt inne und heftete angestrengt seinen Blick auf die Hügel. Warum hatte er den Eindruck, dass hier etwas nicht mit rechten Dingen zuging? Er wähnte sich inmitten eines Suchbildes des höchsten Schwierigkeitsgrades, betrachtete die Landschaft als Ganzes, die Bäume, die Felsen in der Ferne, den azurblauen Himmel. Da durchzuckte ihn die Erkenntnis wie ein Blitz! Er befand sich noch immer in der gefälschten Wirklichkeit, in einer fast perfekten Simulation mit nur einem winzigen, kaum wahrnehmbaren Fehler. Der war in den östlichen Hügeln versteckt, die von der gleißenden Sonne nicht aus südlicher, sondern aus nördlicher Richtung beschienen wurden!
  Nun hatte Kerr die Gewissheit, dass sein morgendlicher Albtraum tatsächlich geschehen und er offenbar weiter darin gefangen war. Kalter Schweiß stand ihm auf der Stirn. Verzweifelt schrie und sang er, sagte sich das kleine Einmaleins vor und zwickte sich in die Arme, bis es wehtat, nur um zu prüfen, ob er auch wirklich munter war oder noch schlief. Leider deutete alles darauf hin, dass er wachte und von einer künstlichen Realität umgeben war, der zu entkommen sich schwieriger gestaltete, als er anfangs geglaubt hatte.
  David wollte ausbrechen. Irgendwo war eine Grenze, die es zu erreichen galt. Er rannte, so schnell ihn die Füße trugen, die Zunge hing ihm zum Hals heraus und Seitenstechen erschwerte ihm das Atmen. Sekunden erschienen ihm wie Minuten und Minuten wie Stunden. Schließlich erkannte er von weitem das Ortseingangsschild. Möglicherweise war ja das Ende der Stadt auch das Ende dieser künstlichen Welt. Er eilte hoffnungsvoll die Landstraße entlang und atmete tief die Waldluft ein. Da stieß er plötzlich gegen ein unsichtbares Hindernis und durchbrach die zweite Pappwand!
  Die felsigen Hügel am Horizont waren nun etwas näher; Licht und Schatten waren richtig verteilt. Vor Freude sprang David in die Luft. Er war frei! Doch was sollte er mit dieser wiedergewonnenen Freiheit anfangen? Hier konnte er jedenfalls nicht bleiben, denn so weit das Auge reichte, sah er nur Wald und Berge und nirgends eine Ortschaft. Also entschied er sich dafür, einfach draufloszuwandern. Vielleicht käme er ja durch Zufall an einem Dorf vorbei. Welchen Weg aber sollte er einschlagen? Direkt durch den Wald laufen? Nein, das war zu gefährlich. Wie schnell kann man sich da verirren! Gründlich musterte er das Gelände. Offensichtlich war er von der felsigen Hügelkette eingeschlossen. Demnach müsste er, wenn er die Berge umgehen wollte, erneut die künstliche Stadt betreten. Das wäre jedoch ein Rückschritt mit unberechenbaren Folgen. Er fühlte, seine Zukunft lag jenseits dieser Erhebungen.
  Während Kerr so grübelte, wurde er einer Schneise gewahr, die etwas weiter westlich quer durch den Wald und steil hinauf bis zu den Bergen führte. Die Route war unter Umständen etwas beschwerlich, aber zumindest konnte er sich dabei nicht verlaufen und hatte stets sein Ziel vor Augen. So marschierte er, ohne zu zögern, nach Südwesten und schlug den soeben entdeckten Weg ein.
  Der Aufstieg dauerte Stunden und war ziemlich anstrengend. Der Wald schien sich auf beiden Seiten schier endlos auszudehnen und auch die Hügel kamen kaum näher. Die Wärme der unbarmherzig brennenden Sonne machte David sehr zu schaffen. Zudem hatte er schon bald nichts mehr zu trinken. Erst als er die halbe Strecke hinter sich gebracht hatte, vernahm er ein leises Plätschern. Folglich musste hier irgendwo Wasser sein! Angetrieben vom beinahe unerträglich gewordenen Durst setzte er seine letzten Kräfte frei und schleppte sich höher und höher bergauf. Das Rauschen des Wassers wurde immer lauter. Siehe da - hier war ein Bächlein! David trat zu dem Rinnsal hin und schöpfte das kalte Wasser mit der hohlen Hand. Er schlürfte es gierig wie ein Tier, und als er seinen Durst gestillt hatte, benetzte er Gesicht und Arme. Wie erquickend war doch das kühle Nass!
  Im Schatten der dunkelgrünen Nadelbäume rastete er ein wenig, genoss die frische Luft und sog tief den Duft der Fichten ein. Endlich konnte er sich etwas erholen, aber die Zeit lief ihm davon. Es war bereits Nachmittag und der Weg war noch weit; also machte er sich schweren Herzens auf. Die Verschnaufpause hatte ihm jedoch gutgetan und er kam jetzt wieder schneller vorwärts.
  Einige Stunden später hatte Kerr den Wald hinter sich gelassen. Die felsigen Erhebungen lagen nun majestätisch vor ihm. Er hielt inne, um die Landschaft zu betrachten. Dann blickte er hinab ins Tal. Von oben wirkte alles winzig. Die künstliche Stadt glänzte mit ihren weißen Häusern wie ein verschlafenes Dorf auf einer Ansichtskarte. Es erweckte so gar nicht den Eindruck, als wäre sie ein Gefängnis. Aus der Ferne wies nichts darauf hin, dass sie in eine Pseudorealität eingebettet war.
  Zum ersten Mal dachte David über die Menschen nach, die da unten lebten. Hatten sie möglicherweise noch gar nicht bemerkt, dass sie bloß Figuren in einem höchst sonderbaren Spiel waren? Hatten sie sich vielleicht damit abgefunden, Teil eines unerklärlichen Puzzles zu sein? Oder waren sie selbst nur eine Täuschung wie alles andere? Ernüchtert musste er sich eingestehen, dass es zu spät war, diese Fragen zu stellen. Er war entflohen und sie waren dort. Er würde ihnen nie wieder begegnen und demzufolge nie erfahren, ob sie die seelenlose Staffage einer fast perfekten Illusion oder ahnungslose Opfer eines bösen Streichs waren. Diese Leute musste er vergessen und an seine eigene Zukunft denken. Er wandte sich ab. Vor ihm thronten die felsigen Hügel. Ihnen galt nun seine ganze Aufmerksamkeit.
  Ohne eine weitere Pause lief Kerr schnurstracks auf die Berge zu, marschierte zielstrebig über Wiesen und Gestein. Sein Herz klopfte, sein Magen knurrte, die Nerven lagen blank und eine unbestimmte Angst ergriff ihn. Er richtete sein Augenmerk fortwährend auf die Hügelkette, so als wolle er sie festhalten, denn je näher er an sie herankam, desto weiter wähnte er sich davon entfernt.
  Misstrauisch musterte er die Felsen. Da fuhr ihm der Schreck in alle Glieder. Warum war es ihm nicht schon früher aufgefallen? Was hatte in den letzten Stunden seine Sinne derart getrübt? Er blickte auf die Hügel, die vor ihm lagen. Von Furcht erfüllt, hielt er die Hand vor die Augen, doch als er sie wieder wegzog, bot sich ihm dasselbe Bild - die Berge waren ausnahmslos identisch! Bis ins kleinste Detail stimmte alles überein: die dunkelgrünen Matten auf dem Plateau, die kahlen, steilen Hänge an der Westseite, die tiefen Felsspalten am Fuß. Es war, als hätte ein x-beliebiger Hügel Pate bei der Erschaffung eines Modells gestanden, welches dann unzählige Male vervielfältigt und aneinandergereiht worden war, bis sich die einzelnen Teile zu einer Bergkette zusammengefügt hatten und das Tal mitsamt der künstlichen Stadt gänzlich umschlossen.
  Kerr war außer sich vor Entsetzen. Diese Landschaft war nicht natürlich! Sie war wie das Anwesen und die Stadt eine unwirkliche Erscheinung, nur eben um ein Vielfaches größer. Von wem wurde er gefangen gehalten und zu welchem Zweck?
  Während er losstürmte, um der falschen Welt ein für alle Mal zu entkommen, schwirrten ihm tausend Gedanken wie ein aufgescheuchter Bienenschwarm durch den Kopf. Einerseits tröstete er sich mit der schwachen Hoffnung, dass er vielleicht noch immer schlafend in seinem Bett in dem Herrenhaus lag. Andererseits fühlte er sich hellwach und völlig entkräftet - ein Beweis dafür, dass dies kein Traum war.
  Wozu diente die Hügellandschaft und wer hatte sie erschaffen? Existierte sie tatsächlich irgendwo auf der Erde oder hatte eine fremde Macht Kerr auf einen Hunderte Lichtjahre entfernten Planeten verbracht? Hatte eine höher entwickelte Lebensform eine zweite Erde angefertigt und dabei einige Fehler begangen, und wenn ja, waren sie aus Versehen oder mit Absicht eingebaut worden? Bestand diese Umgebung überhaupt aus Materie oder war sie nur eine aus reiner Energie erzeugte Illusion? Und welchen Zweck erfüllte solch ein Test? War Kerr bloß ein Versuchskaninchen im Labor von Außerirdischen, die wissen wollten, wie lange es dauert, einen typischen Vertreter der Spezies Mensch in den Wahnsinn zu treiben? Überprüften sie seine Klugheit, seine Hartnäckigkeit und seinen Freiheitsdrang?
  Noch immer rannte David. Was für unsinnige Theorien hatten sich da in seinem Kopf angehäuft! Ihn, den Bettler und Tagedieb, würde kein Wesen als für die Menschheit repräsentative Testperson auswählen, und schon gar nicht, wenn es intelligent wäre, was man bei einer raumfahrenden Spezies wohl voraussetzen kann. Davon abgesehen waren die Fehler einfach zu grob, als dass sie einem Experimentator so mir nichts, dir nichts unterlaufen wären. Hätten Fremde die Erde erkundet, so hätten sie schnell erkannt, dass kein Hügel dem anderen gleicht. Und warum sollten sie die einzelnen Bereiche ihrer Forschungsanlage durch bemalte Pappwände voneinander trennen? Nein, das alles ergab keinen Sinn.
  Sicher, er war ein Opfer, aber bestimmt kein Opfer höherer Mächte. Bis heute Morgen hatte er ein trauriges, doch völlig gewöhnliches Dasein geführt. Zu Fuß war er vor Wochen in das Städtchen T. gekommen, ohne dass er eine Barriere aus Pappe hatte durchbrechen müssen. Sogar das verfallene Anwesen hatte er ohne Mühe betreten und war beim Klettern über den Gitterzaun auf keine Grenze gestoßen. Genauso wenig konnte er sich erinnern, auf seinem Weg nach T. über eine Hügelkette gelaufen zu sein. Nur am östlichen Horizont hatte er seinerzeit die Berge gesehen. Wer hätte damals gedacht, dass ihn hier ein dermaßen nervenaufreibendes und ungewisses Schicksal ereilen würde! Noch gestern Abend schien T. ein Ort wie jeder andere gewesen zu sein - eintönig, trist, ohne besondere Merkmale. Und nun befand sich David in einer ausweglosen Situation, mit seiner Kraft am Ende und der Verzweiflung nahe.
  Die Sonne leuchtete orange am Himmel und sank allmählich bei den westlich gelegenen Hügeln. Kerr schleppte sich den vor ihm liegenden Hang hinan. Auf dem beschwerlichen Weg nach oben zog er sich einige Schrammen zu. Schließlich stand er zwischen den Felswänden und sah hinab in die Tiefe. Dort unten rauschte wild das dunkelblaue Meer. Wenn er springen würde, brächte es ihm die sofortige Erlösung. Doch er zögerte. Sollte er sich wahrlich das Leben nehmen? Er war ja weder alt noch krank und hatte eigentlich keine Lust, so früh den Löffel abzugeben.
  Was aber blieb ihm denn als Alternative? In einer künstlichen Welt zu leben hieße ja, auf ewig eingekerkert zu sein! Was immer dies bedeutete, wozu es auch diente, egal ob es von jemandem veranlasst worden oder einfach so geschehen war, ganz gleich, ob es nur ein Traum oder die Wirklichkeit war - es musste hier enden. Kerr schloss die Augen und stürzte sich in den Abgrund. Er fiel rasch und tief und riss dabei eine weitere Pappwand durch. Dies bremste ihn stark ab, so dass er, anstatt hart und tödlich auf dem Boden aufzuschlagen, ganz weich im warmen Sand landete.
  Selbst die Hügelkette war also mit einem Gemälde umhüllt! War dies nun die letzte Barriere gewesen? Vom jähen Fall noch ein bisschen benommen, richtete sich David auf und raufte sich die dünnen grauen Haare. Er blickte zu den Bergen hinauf, deren glatte Felswände steil in den Himmel ragten. Beinahe bedauernd musste er sich eingestehen, dass ihm jetzt zum ersten Mal seit Beginn der rätselhaften Ereignisse der Rückweg versperrt war; denn nie und nimmer wäre er dazu imstande gewesen, diese Erhebungen zu erklimmen. Und vor sich sah er bloß einen endlosen gelben Sandstrand, der sich sanft zum Meer neigte, wo die stark bewegte Flut heranrollte.
  Die Erbauer jener Welt hatten nicht allzu viel Einfallsreichtum walten lassen, aber sie beherrschten es perfekt, jemand in die Enge zu treiben. Je länger Kerr über seine gegenwärtige Lage nachdachte, desto mehr kam er zu dem Schluss, dass er die einzige Variable in einem abgekarteten Spiel war. Seine Blicke glitten über die raue See, die mit lautem Tosen ihre Wogen aufpeitschte. Geräuschvoll wie Donnergrollen brachen die Wellen, während der Abend den Himmel in Gold- und Orangetöne kleidete.
  David lief am Ufer entlang, der Sonne entgegen und doch ziellos. Der Weg zurück war ihm abgeschnitten, der Strand war menschenleer und ohne Vegetation. Im Meer erwartete ihn nichts anderes als der Tod. Er schluchzte vor sich hin. Warum hatte er T. überhaupt verlassen? In dieser Stadt, obgleich sie künstlich war, hätte er trotz allem ein beschauliches Leben führen können. Dort gab es genug leer stehende Häuser, Leute, mit denen man reden konnte, und Imbissbuden für das leibliche Wohl. Stattdessen hatte ihn sein Freiheitsdrang an den Rand des Verderbens gebracht.
  Das Meer kam bedrohlich nahe. Die rauschenden Wellen rollten über den Sand, umspülten seine Füße, durchnässten sein ausgetretenes Schuhwerk. Er schleppte sich tapfer weiter gen Westen, der untergehenden Sonne entgegen, aber die Flut stieg an und machte ihm bald den Boden streitig. So wich er zurück bis zu den Felsen und starrte in die rote Sonne. Sie stand nur noch knapp über der wilden See und wirkte wie ein ausgebeulter Lampion. Kerrs Augen brannten von dem starken Lichteinfall. Er öffnete den Mund und setzte zu einem Schrei an. Ein letztes »Warum?« oder »Warum ich?« wollte er in die Dämmerung hinausbrüllen, doch der Ruf erstarb in seiner Kehle. So blieb er stumm, während das Meer sein lautloses Wimmern übertönte. Das Wasser reichte ihm schon bis an die Knie. War er noch oben auf den Hügeln bereit gewesen, freiwillig in den Tod zu gehen, so wollte er jetzt, wo er keine Wahl mehr hatte, um jeden Preis leben. Von Furcht erfasst, atmete er schwer ein und aus. Als die Sonne gesunken war, rang er mit den Wogen, ruderte mit Armen und Beinen, um sich in der stürmischen Flut über Wasser zu halten. Jeder Augenblick erschien ihm wie eine Ewigkeit.
  Unter dem sternenklaren Himmelszelt kämpfte David mit letzter Kraft um sein Leben, um Sekunden und Atemzüge, um jeden einzelnen Wimpernschlag. Doch diese Schlacht war bereits verloren, bevor sie begonnen hatte. Mühevoll bäumte er sich auf und schwamm reflexartig, bis seine Arme erlahmten, die Beine schmerzten und Wadenkrämpfe ihn plagten; trotzdem schlugen die Wellen über ihm zusammen. Er schluckte Wasser. Hilflos paddelte er. Statt eines Schreis brachte er nur ein Gurgeln hervor. Schließlich schwanden ihm die Sinne und das Meer verschlang ihn wie ein hungriges Tier.
  Da geriet er plötzlich in etwas Prickelndes, das ihn jäh aus seiner Ohnmacht riss. Inmitten eines chaotisch wirbelnden Strudels schnellte er mit einem Mal in die Höhe und schoss immerfort nach oben, bis er mit dem Kopf auf eine raue Wand traf. Es war die Wasseroberfläche - nein! Es war eine weitere Grenze aus Pappe, die er gerade durchdrang!
  David rang nach Luft. Er konnte wieder frei atmen, aber der Schädel brummte ihm gehörig. Irgendwie hatte er überlebt und langsam kehrte auch seine Wahrnehmung zurück. Ungläubig rieb er sich die Augen. Über ihm funkelte das Sternenzelt; unter ihm schäumte die See. Und er schwebte elfenhaft zwischen den Wolken, völlig vom Boden losgelöst!
  Ließen ihn die Konstrukteure jener künstlichen Erde etwa an ihren göttlichen Fähigkeiten teilhaben? Oder war er vielleicht schon tot? Jedenfalls galt es jetzt, das Beste aus dieser höchst befremdlichen Lage zu machen. Deshalb entschloss er sich kurzerhand, die Welt im Flug neu zu entdecken. Gewiss sah sie aus der Vogelperspektive ganz anders aus - viel kleiner und unbedeutender und vor allem weniger gefährlich. Er musste sich nicht mehr durch sie durchkämpfen. Sie war nicht länger ein unbesiegbarer Gegner. Er würde einfach über sie hinweggleiten und sie aus sicherer Entfernung betrachten.
  Kerr fühlte sich überlegen und von aller irdischen Last befreit. Obwohl er nicht wusste, wie er zu diesem Talent gekommen war, genoss er es dennoch in vollen Zügen. Nie wieder wollte er hinunter in jene feindliche Welt, die ihn in immer größeren Pappbehältern gefangen gehalten hatte. Kein Berg nahm ihm hier oben die Sicht. Kein Hindernis stellte sich ihm in den Weg. Hunger und Durst waren vergessen sowie alle menschlichen Bedürfnisse. Es gab keinen Zweifel - irgendetwas passierte mit ihm. Er veränderte sich. Seine Angst vor dem Unbekannten war gewichen und Staunen war an ihre Stelle getreten. Anstatt sich zu fürchten, versuchte er nun zu verstehen.
  Für den Anfang begnügte sich David jedoch damit, seine ungeahnten Möglichkeiten auszutesten. Am wichtigsten war es, erst einmal zu ergründen, wie man sich in diesem Zustand zielgerichtet fortbewegt. Er vollführte Schwimmübungen und ruderte mit den Armen. Das brachte ihn aber nirgendwohin; er verharrte stets auf demselben Fleck. Es dauerte eine Weile, bis er begriff, dass sich Höhe, Geschwindigkeit und Richtung allein mit dem Geist kontrollieren ließen.
  Der Leib als solcher hatte ausgedient. Er war wertlos, nutzlos, ein Rudiment, das aus einer vergangenen Epoche stammte. Kerr brauchte dieses Anhängsel nicht mehr und wollte sich aus Nostalgie doch nicht davon trennen. Er mochte kein fliegendes Gespenst, kein körperloses Wesen sein; er fühlte sich wohler als ein schwebender Mann, der dem Tod trotzt und das Leben bejaht.
  So segelte er um die ganze Welt. Ohne Kraftaufwand überquerte er in luftiger Höhe das Land und die Ozeane. Wenn er des Weiterreisens müde war, ließ er sich auf einer Wolke nieder, denn die Wolken waren jetzt seine Betten. Manchmal verweilte er darauf und ließ sich vom Wind treiben. Er führte ein sorgenfreies, zielloses Dasein ohne Bestimmung, Freude oder Angst, Kummer oder Schmerz. Er existierte bloß um seiner selbst willen - fast wie eine faule Gottheit, die gleichgültig Äonen verstreichen lässt, ohne auch nur das Geringste zu tun.
  Bald hatte Kerr jedes Gefühl für Zeit verloren. Nach und nach begann er allerdings die Sinnlosigkeit seiner Existenz zu bedauern. Er überflog dieselben Meere und Kontinente, dieselben Städte und Berge immerzu. Eine sehr menschliche Regung bemächtigte sich nun seiner: Es war die Langeweile!
  Die erdgebundenen Dinge hatte er zur Genüge beobachtet. Er wollte Neues erfahren und hinaus in das Universum reisen. Eines Nachts schließlich, als der schwarze, sternenverzierte Himmel über ihm stand, glaubte er, von den Gestirnen gerufen zu werden. Sehnsüchtig blickte er hinauf zum rot leuchtenden Planeten Mars und verspürte eine seltsame Anziehungskraft. Da wurde er von einem starken Sog erfasst und mit einem Ruck in den Weltraum geschleudert, wobei er eine weitere Mauer aus Pappe durchstieß! Selbst die Erde als Ganzes war also nur eine Illusion, Teil einer Welt aus verschachtelten künstlichen Realitäten immer größeren Ausmaßes.
  Kerr sah sich um und traute seinen Augen kaum. Er schwebte tatsächlich im Kosmos - ohne Raumanzug, ohne Sauerstoff, ohne ein Schiff! Nein, ein Mensch war er sicherlich nicht mehr, doch nach wie vor ein beseeltes, von unbändigem Willen gesteuertes Wesen.
  Alle Planeten des Sonnensystems waren für ihn jetzt zum Greifen nahe. Er wusste, schon der Wunsch, sie zu besuchen, könnte ihn augenblicklich zu ihnen befördern. Sogar die Hunderte Lichtjahre weit entfernten Sterne schienen ihn einzuladen. Aber wollte er denn überhaupt dahin und was sollte er dort tun? Mehr und mehr zweifelte er am Sinn seiner gegenwärtigen Existenz. Er war einfach nicht zum Weltraumtouristen geboren. Traurig blickte er auf die Erde hinab. Aus dem All betrachtet, wirkte sie klein und zerbrechlich, unwichtig und überflüssig, bloß wie ein flüchtiger Gedanke im Gehirn des Universums. Doch sie war seine Heimat. So winzig und unbedeutend sie auch schien, sie war das Ziel seiner Sehnsucht. Heimweh beschlich ihn. Er wollte zurück in sein Land, zurück in sein früheres Leben. Er fühlte sich einsam und entwurzelt.
  Je länger David nachdachte über all das, was ihm widerfahren war, desto weniger behagte es ihm. Wie viel Zeit mochte inzwischen vergangen sein, seit er das Anwesen in T. verlassen hatte? Wie war er in jenen sonderbaren Strudel der Ereignisse geraten? Und wem gehörte diese verschachtelte Welt?
  Irgendetwas hatte in dem Haus in T. ein höchst merkwürdiges Experiment in Gang gesetzt, dessen Fortschreiten er nicht aufhalten konnte. Eine Barriere nach der anderen hatte er durchbrochen, und jedes Mal hatte sich die so gewonnene Freiheit als trügerisch erwiesen. Sollte am Ende die ganze Welt in Wahrheit nur die Spielwiese eines kindlich launischen, unbegreiflichen Wesens sein? Wie würde sich denn wohl ein zweidimensionales Geschöpf in der Ebene eines Blattes Papier fühlen, wenn ein Menschenkind jene Fläche mit Buntstiften bemalte? War Kerrs neue Welt vielleicht nichts anderes als die Zeichnung eines vier- oder mehrdimensionalen Wesens? Er mochte nicht mehr weiterdenken. Die Theorie, dass ein halb verfallenes Haus die Pforte zu einer höheren Dimension sein sollte, war einfach zu absurd.
  Starr blickte David zu den fernen Sternen hin. In diesem dunklen, eisigen Weltall war kein Platz für ihn, und ein ewiges, planloses Umherirren erschien ihm noch schlimmer als der Tod. Sein Wille steuerte auf die Sonne zu. Im selben Moment spürte er ein Fallen, tief und endlos durch schwarze Schichten der Nacht. Er kehrte zurück durch die äußeren Hüllen des Planeten Erde, stürzte durch die Wolkendecken geradewegs auf eine Landmasse zu. Ein Ort wurde unter ihm sichtbar - erst eine bebaute Fläche, dann einzelne Straßenzüge und Häuser, schließlich eine große Villa in einem Park. Krachend durchstieß Kerr das Dach dieses Gebäudes und landete unsanft, aber unversehrt in seinem gemütlichen Bett, das nur ein Knarren von sich gab.
  Erleichtert wachte er auf. Alles war bloß ein böser Traum gewesen, einer dieser Flug- und Fallträume, die ihn in letzter Zeit immer öfter heimsuchten. Erlöst sprang er aus den Federn, lief eilends zum Fenster und riss es auf. Oje! Draußen lachte hämisch die knallgelbe Sonne mit ihren gemalten, nadelfeinen goldenen Strahlen. Der Albtraum war nicht vorbei - im Gegenteil! Er hatte gerade erst begonnen.
  David war in eine Endlosschleife verbannt, aus der es kein Entrinnen gab. Er war wie das Strichmännchen auf einem Möbiusband, wie die Maus im Laufrad. So fiel er wimmernd auf die Knie und betete darum, dass der Schöpfer jener Welt ihn aus seiner Zeichnung ausradierte oder sein widerwärtiges Machwerk eines Tages vernichtete.


In einer vierdimensionalen Welt
malt ein untalentiertes Kind
ein naives Bild auf eine
dreidimensionale Leinwand.

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