Es war einmal eine große Familie, die in einem kleinen, der Welt entrückten Häuschen am Rand eines dunklen Tannenwaldes wohnte.
Der Großvater hatte im vergangenen Herbst die Frau verloren und war seither stets traurig und zerstreut. Der einstmals so lebenslustige Alte war über Nacht vergreist. Gramgebeugt schlich er durch das Gebäude, den Flur entlang, ewig hin und her. Seine Augen waren trüb, seine Blicke schienen in weite Ferne zu schweifen, und manchmal sah er dort wohl Dinge, die sonst niemand sah. Sein Schlurfen, das monotone Geräusch der schweren Pantoffeln, die schneller waren als die Füße, und seine verworrenen Reden, mahnende Vorboten eines schwindenden Verstandes, erfüllten nun das vom Kummer der Familie geprägte Haus.
Die Türen quietschten lauter, die Fenster klemmten und der Boden knarrte, seit die Großmutter heimgegangen war. Ihre Fröhlichkeit hatte den Raum erhellt, wenn Düsternis am Horizont hervorkroch, und sie hatte die Zimmer erwärmt, wenn sich hinter den dichten Gardinen Eisblumen mit gierigen, kalten Tentakeln an die Glasscheiben klammerten. Als die Großmutter gestorben war, hatte das Herz des Hauses aufgehört zu schlagen.
Der Vater besserte das Dach aus, strich die Fensterrahmen, reinigte den Kamin, legte neue Dielen und tapezierte die Wände. Es war, als ob er mit all der Flickschusterei in erster Linie Omas Andenken wachhalten wolle, denn in letzter Zeit arbeitete er rastlos und wie besessen an dem alten Haus, obwohl die Familie unlängst beschlossen hatte, bald umzuziehen.
Die Mutter kümmerte sich um alles. Sie kochte, putzte, nähte und weinte. Sie weinte jämmerlich um ihre Mutter. Sie weinte beim Kochen, Putzen und Nähen, und auch die selbst gebackenen Plätzchen schmeckten salzig ob ihrer nie versiegenden Tränen.
Die Kinder litten unter der gedrückten Stimmung. Sie vermissten die heiteren Großeltern, und wenn sie lachten, dann lachte keiner mit ihnen. Oh, es war ein freudloses Weihnachtsfest für Sohn und Tochter! Sie war ja erst vier, ihr Bruder war acht, und beide verstanden die Welt nicht mehr.
Am Morgen des 24. Dezember ging der Vater in den Wald, um eine Tanne zu schlagen. Ohne sein Wissen folgte ihm die kleine Tochter, und sie rannte unversehens in ihr Unglück, denn als der Baum fiel, begrub er das arme Mädchen unter sich. Der Vater sah durch die dunkelgrünen Zweige ihr goldenes Haar schimmern und lief entsetzt zu ihr hin. In den Himmel schrie er seine Verzweiflung, und nur die verblassende Mondsichel war Zeuge, als er heulend und dem Wahnsinn nahe auf der Stelle zusammenbrach.
Wenig später erhob er sich in der Absicht, seine Tochter unter dem Baume hervorzuziehen, um ihr eine würdevollere letzte Ruhestätte zu geben. Wo aber war ihr zerschmetterter Körper hin? In ihrem dicken roten Mantel hatte sie reglos dagelegen! Er hatte ihr blondes Haar glänzen sehen! Spielte das gleißende Licht der Morgensonne ihm etwa einen bösen Streich? War es in Wirklichkeit bloß ein Trugbild der geliebten Tochter gewesen? Tollte sie vielleicht gerade fröhlich mit ihrem Bruder im verschneiten Garten herum und versuchte einzelne Schneeflocken einzufangen, die der garstige Nordwind aus noch kälteren Gefilden herwehte?
Hoffnungsvoll rief der Vater nach ihr, doch wie laut er auch rief - sie war nirgendwo hier draußen. Das Töchterlein blieb unauffindbar. So schnell ihn die müden Füße trugen, lief er nach Hause und die Angst begleitete ihn.
Verzweifelt berichtete der Unglückselige seiner Frau von den ebenso schrecklichen wie unheimlichen Geschehnissen. Sie brach daraufhin sofort in Tränen aus und eine gerade begonnene Nadelarbeit entglitt ihren zitternden Händen. Durch den neuen Verlust wurde ihr Schmerz nun gänzlich entfesselt.
Der senile Opa, der sich auf der Suche nach seinem Sohn in kindischer Vorfreude auf Weihnachten einstweilen selbst in den Wald begeben hatte, schleppte unterdessen einen wundervoll gewachsenen Baum herbei, obwohl dies seine zusehends schwindenden Kräfte eigentlich bei weitem überstieg. Als die beiden Männer gemeinsam die Tanne aufgestellt hatten, entdeckte der Vater an einem der oberen Zweige ein gelocktes goldenes Haar! Der kalte Schweiß stand ihm angesichts der schrecklichen Erkenntnis auf der Stirn: Sie hatten genau den Baum zum Weihnachtssymbol bestimmt, der nur wenige Stunden vorher das Leben des jüngsten Familienmitglieds ausgelöscht hatte!
Stillschweigend trottete der Vater davon. Zu viel Kummer war über ihn und seine Lieben gekommen; zu seltsame Dinge waren passiert. Er konnte und wollte dieses Dasein nicht länger ertragen. Stundenlang stapfte er durch den dichten Wald. Mit der sinkenden Sonne gingen schließlich auch seine Kräfte zur Neige, und irgendwo im tiefen weißen Schnee legte er sich nieder. Sein Körper wurde kälter und leichter ward ihm ums Herz, als die versiegende Lebensenergie seine Sinne mit sich fortriss. Bald zogen dunkle Wolken heran und herabrieselnde Flocken bedeckten seine sterbliche Hülle.
Daheim heulte die Mutter gellend, eine Lache von salzigen Tränen zu ihren Füßen. Der Tannenbaum sog gierig die Flüssigkeit ein und fing an zu wachsen. Sein Stamm bildete neue, kräftige Wurzeln aus, die die morschen Dielen durchbohrten und von dem baufälligen Haus Besitz ergriffen. Sein Wipfel reckte sich keck immer weiter in die Höhe, durchstieß zuerst die Zimmerdecke und kurz darauf das notdürftig reparierte Dach. Die Äste des schaurigen Weihnachtsboten schwangen sich durch das ganze Gebäude, zersplitterten alle Fensterscheiben und brachten die bröckelnden Wände zum Einsturz.
Mutter und Sohn liefen um ihr Leben, rannten in panischer Angst die knarrende Holztreppe hinab und stürmten aus dem Gemäuer, das nur noch eine Ruine war. Der Großvater aber wachte im Wohnzimmer, wie wenn er die Heimstatt seiner verstorbenen Frau verteidigen müsste. Als die beiden zurückblickten, sahen sie das Haus zusammenfallen. Unter den staubigen Trümmern wurde der Opa begraben.
Im Garten sank die Mutter hin. Innerhalb eines Vierteljahres hatte sie all ihre Lieben verloren. Die Trauer wurzelte so tief in ihr, dass nichts und niemand sie davon befreien konnte. Sie raufte sich die blonden Haare, denen das Mondlicht, das aus den Wolken hervorbrach, einen grauen Schimmer verlieh. Unentwegt flossen Tränen, die sich zu einem sprudelnden Quell zu ihren Füßen vereinigten. Sie aber konnte nicht anders als weinen, jammerte und wimmerte immerzu. So schwoll die Quelle an zu einem Bach und der Bach zu einem Fluss. Bald bildete sich ein reißender Strom. Am ersten Weihnachtsfeiertag schwammen Mutter und Sohn in einem unstet hin und her wogenden Meer aus Zähren.
Das Kind flehte seine Mutter an, endlich mit dem Heulen aufzuhören. Doch sie weinte den ganzen Tag, bis sie sah, dass nun auch ihr Sohn um sein Leben kämpfte. Die Kräfte verließen ihn und er drohte im Ozean ihrer vergossenen Tränen zu ertrinken. Da endlich besann sie sich eines Besseren und wagte einen Neuanfang mit ihrem Jungen, dem Einzigen, den sie aus ihrem alten Leben noch retten konnte. Sie ergriff ihn, drückte ihn fest an sich und steuerte in Richtung Morgengrauen. Am zweiten Weihnachtsfeiertag trieb die Flut die beiden an ein grünes, von Blüten gesäumtes, glücklicheres Gestade, und sie begaben sich voller Hoffnung auf ein fröhlicheres Dasein an Land.
|