Die Rose ist das florale Symbol der Liebe. Ihr anmutiger Wuchs und die prachtvolle Blüte machen sie zur schönsten Blume der Welt. Sie duftet betörend und strahlt etwas Majestätisches aus. Sie ist ein Geschenk der Natur an die Menschheit, eine Wonne für jedes empfängliche Auge, Balsam für die Seelen der Traurigen, eine Zierde auf Erden und der Schlüssel zu den Herzen der Frauen.
Inmitten eines Meeres von roten Rosen ein Mann mit bettelndem Blick auf den Knien - welche Frau könnte da nein sagen? Meredith konnte es nicht. Der betuchte Rosenzüchter Stanley Tucker hatte sie, die Floristin aus einfachen Verhältnissen, zur Gemahlin erwählt, und sie ließ sich durch die Blumen, den lupenreinen Brillanten und nicht zuletzt durch den guten Namen des Bräutigams verzaubern.
Stanley Tucker war nicht attraktiv, ein Mann um die vierzig und damit eigentlich zu alt für Meredith. Er war beleibt und sein Haar im Schwinden begriffen. Die letzten, noch hartnäckig an ihrem Platz verbliebenen dunkelbraunen Büschel ragten störrisch in die Höhe wie einfältige Gespenster der Vergangenheit. Tucker war zurückhaltend und bescheiden. Er wirkte höflich, doch niemals freundlich, offen, aber nicht ehrlich. Er lächelte, ohne fröhlich zu sein. Er existierte, ohne lebendig zu sein. Seine Augen verrieten Einsamkeit und Trauer, denn erst vor einem Jahr hatte er seine innig geliebte Ehefrau Rose durch einen Autounfall verloren. Seit sie von ihm gegangen war, schien er gebrochen. Er fristete sein Dasein mit Disziplin, jedoch ohne rechte Freude. Allein seine Arbeit gab ihm Kraft. Ein unüberschaubares Landgut nannte er sein Eigen, wo er mit Hingabe Rosen züchtete, denn sie erinnerten ihn an seine verstorbene Frau, die sich diesen Blumen immer verbunden gefühlt hatte. Tucker war auf der Suche nach einer Gefährtin, die die Leidenschaft für Rosen mit ihm teilte. Da dachte er wohl, eine Floristin könne die Lücke, die der Tod seiner Gattin in sein Leben gerissen hatte, am ehesten wieder schließen.
So kniete er nun vor Meredith und versprach ihr, ein guter Ehemann zu sein. Sie mochte ihn und glaubte nicht mehr an den Märchenprinzen. Nein, sie liebte ihn nicht. Aber liebte er sie wirklich? Liebte er an ihr nicht vielmehr nur das, was ihn an seine erste Frau erinnerte? Meredith war es einerlei. Sie würde keine zweite Rose abgeben, und Tucker war für sie die einzige Chance auf ein Leben ohne Geldnot. Also nahm sie die Blumen, den Brillanten und den Mann.
Schon zwei Monate später trat das ungleiche Paar vor den Traualtar. Merediths zartes, ovales Gesicht hatte noch die unverbrauchten Züge der Jugend und wurde von goldblonden Locken umrahmt, auf denen der weiße Schleier thronte. Ihren langen, bleichen Hals zierte ein sündhaft teures Collier. Ihre schlanke Figur verschwand beinahe in dem ausladenden Hochzeitskleid, doch Tucker mochte es so, wie es war. Als eine der Rosen aus dem Bouquet ihr in den Finger stach und rote Blutstropfen den weißen Tüll besudelten, ahnte Meredith nichts Gutes, denn bei den Rosen auf Stanley Tuckers Landgut lag ihre Zukunft ...
* * *
Einige Wochen waren seit der Heirat vergangen und die Rosen blühten auf den Feldern. Der Himmel war grau und ein hässlicher, weißlicher Regen rieselte aus den Schichtwolken. Meredith stand am Fenster und blickte hinaus. Sie sah den Tropfen beim Herabfallen zu. Ab und an meinte sie, einen einzelnen ausmachen und verfolgen zu können. Die Blumen wiegten sich kaum merklich im Wind, ihre Blätter gierten nach der willkommenen Erfrischung. Ihr kräftiges Rot wirkte blasser als sonst und doch bereitete es Meredith eine innere Unruhe, ein starkes Unbehagen, ein Gefühl, als ob gerade ein Expresszug durch ihren Magen gerast wäre. Plagte sie bloß eine Laune oder empfand sie am Ende Reue über die geschlossene Ehe? Hier auf diesem ruhigen, friedlichen Landgut gab es ja nichts außer den Rosen und Tuckers Häuschen, einem bescheidenen und recht gemütlichen Heim, an dem es eigentlich nicht liegen konnte. Trotzdem wusste sie den Beginn jener seltsamen Regungen genau zu bestimmen: Es war an dem Tag, als sie dieses Anwesen zum ersten Mal betreten hatte ...
Von weitem hatten die kleinen Fenster des Hauses sie angelacht. Seine roten Ziegel, das dunkle Dach und der spitze Giebel erinnerten an die Hütten aus den grimmschen Märchen, und Meredith hatte sich gefragt, ob Stanley wirklich so reich war, wie man allgemein annahm. Dennoch war das Heim auf das Modernste eingerichtet. Tuckers erste Frau hatte offenbar einen Sinn dafür gehabt, das Angenehme mit dem Nützlichen zu verbinden, und sie hatte dem Ganzen darüber hinaus eine persönliche Note verliehen. Es ärgerte Meredith gleich, dass alles so perfekt war. Was sollte sie denn verändern, um diesem Haus ihren eigenen Stil zu geben? Was immer sie getan hätte, es wäre keine Verbesserung gewesen. Tucker hatte ihr auch schon zu Anfang klargemacht, dass alles so bleiben sollte, wie es war, und zwar auf ewig. Sie konnte zu diesem Zeitpunkt nicht ahnen, was da bereits wie ein drohender Schatten über ihr schwebte und sich von Tag zu Tag tiefer auf sie herabsenkte. Jetzt aber wusste sie: Es war die Präsenz jener Frau, seiner verstorbenen Frau Rose, die tot und doch innerhalb dieser Mauern allgegenwärtig war.
Im Hause fühlte sich Meredith trotzdem am sichersten. Mag sein, dass die Wände ihr zuhörten, wenn sie aufgewühlt mit sich selbst sprach. Möglicherweise beobachteten die Ziegel ja sogar jeden einzelnen ihrer hastigen Schritte, wenn sie auf und ab ging von der Tür zum Fenster, vom Fenster zur Tür, sich einmal im Kreise drehend und wieder zurück zum Fenster. Doch das Haus war nicht feindselig; eher lauerte es auf etwas, aber Meredith wusste nicht, worauf. Mitunter, wenn sie so allein dasaß, kroch ein Anflug von Verzweiflung ganz langsam in ihr hoch. Dann schalt sie sich eine Närrin und suchte nach Erklärungen für ihre eigenartigen Anwandlungen. Sie fand natürlich keine, jedenfalls keine, die man einem vernunftbegabten Menschen vortragen konnte. Daher schwieg sie, obwohl ein Unheil in der Luft zu liegen schien ...
Von den Glasscheiben perlte der trübe Regen. Die Tropfen hinterließen eine unterbrochene Spur. Meredith verharrte am Fenster, öffnete schließlich beide Flügel und lehnte sich hinaus. Sie atmete tief ein. Es roch nach dem Duft der unzähligen Rosen, der roten, gelben, weißen und geflammten. All die Gerüche, aufdringlich süß und widerlich betörend, vereinigten sich zu einer olfaktorischen Symphonie, die ihr beinahe die Sinne raubte. Von draußen kam es, was immer es war. Es ging von den Rosen aus, lebte in ihnen und benutzte sie für einen tückischen Plan, der bis auf weiteres jedoch im Verborgenen blieb. Ein Meer von Rosen, das im Regen wogt. Rosen - Meredith hatte diese Blumen einst geliebt und jetzt versetzten sie sie in Schrecken.
Vielleicht lag es daran, dass Stanley sie vernachlässigte, seitdem er sie auf seinem Gut abgeladen hatte wie eine Ware, die ihren Reiz verloren hat. Was für ein Ehemann war Tucker eigentlich? Wenn sie frühmorgens erwachte, war er schon weg, und ging sie spätabends zu Bett, war er noch nicht zurück. Die ganze Zeit lief er auf den Feldern umher und sprach mit den Blumen. Manchmal sah sie aus der Ferne, wie er sie liebkoste, ihre Blätter streichelte und an den Blüten roch. Seine Finger glitten an den Stielen entlang, seine Lippen berührten die Knospen, und obwohl er auf diese Weise offenbar seine Tage verbrachte, entdeckte Meredith nie auch nur die geringste Verletzung an seinen Händen oder einen Riss in seiner Kleidung. Die Stacheln verschonten ihn beständig, als wüssten die Rosen, dass ihnen seine ganze Zuneigung galt. Meredith hingegen gelang es nicht ein einziges Mal, an ihnen vorbeizugehen, ohne gepiesackt zu werden. Zuweilen hatte sie sogar den Eindruck, dass sie absichtlich gestochen wurde; denn kam sie in ihre Nähe, ja verließ sie bloß einmal das Haus, wähnte sie bereits ein Rascheln zu vernehmen, ein Rauschen der Blätter, ein sanftes Knistern in den Blüten. Die Stängel schienen sich im Wind zu wiegen, doch in Wahrheit reckten sie sich von selbst in die Höhe, ließen sich mal mehr nach links oder rechts, nach vorn oder nach hinten fallen, um miteinander zu tuscheln und Ränke zu schmieden. Ehe Meredith sich's versah, verhedderten sich die Stacheln in ihrer Kleidung, und je heftiger sie sich dagegen wehrte, desto stärker hielten die Pflanzen sie fest. Sie ritzten ihr die Haut, bohrten sich gierig ins Fleisch und tranken ihr Blut.
Meredith hatte sich darüber bei Tucker beklagt und ihn gebeten, die Rosen aus dem Eingangsbereich zu entfernen, aber er war taub für ihre Wünsche und hatte nur gemeint, sie solle eben etwas Robusteres anziehen. Seine Rosen waren ihm heilig; er hätte niemals Hand an sie gelegt. Besonders die Blumen vorm Haus hatten es ihm angetan. Er umsorgte sie mit geradezu abgöttischer Verehrung. Ihnen gehörte sein ganzes Herz.
Meredith gegenüber verhielt Tucker sich kalt und unnahbar. Deshalb fasste sie einen Entschluss: Bevor sie hier noch den Verstand verlor, wollte sie allem lieber ein Ende bereiten. Sie würde gehen - morgen oder übermorgen. Es war fraglich, ob Tucker ihre Abwesenheit überhaupt bemerkte. Warum hatte er sie eigentlich geheiratet? War es ihm jemals ernst mit ihr gewesen? Hatte er wirklich ein neues Leben beginnen wollen und wurde nun inmitten dieser Rosen von der Vergangenheit doch wieder eingeholt? Hielt ihn die Präsenz seiner verstorbenen Frau vielleicht selbst auf diesem Gut gefangen? Meredith war sich nicht sicher und wollte ihrem Mann zumindest die Möglichkeit bieten, alles zu erklären. Es ging gar nicht mehr darum, ihre Ehe zu retten. Sie begehrte einfach zu wissen, warum die Dinge so unerfreulich verlaufen waren, ob sie Fehler gemacht oder irgendetwas falsch verstanden hatte. Dies war der reinste Hohn, ein Albtraum ohne Erwachen, und sie hatte in der Tat ein Recht darauf, zu erfahren, was Stanley Tucker sich bloß dabei gedacht hatte, sie zu heiraten, um sie wenig später auf seinem Landgut wie ein nutzloses Möbelstück abzustellen.
Sie trat in die Diele und blickte hoch auf das eingerahmte Porträt der schönen Rose. Rätselhafte, algengrüne Augen beherrschten ihr Gesicht und um die wohlgeformten Lippen spielte ein beinahe spöttisches Lächeln. Erhaben und wissend schien sie zu Meredith herabzusehen. Diese Frau, deren wild gelocktes, rostrotes langes Haar fast aus dem Bild wallte, war alles, was sie nie sein würde. Ihre Anmut bei all der Furchtbarkeit thronte nicht nur in der Diele - sie beherrschte das Haus, beseelte die Blumen und wohnte in Stanley Tuckers einsamem Herzen.
Plötzlich wurde Meredith wieder von jener seltsamen Beklemmung heimgesucht. Sie musste hier raus, einfach mal weg von diesem Gut und frische Luft atmen, die nicht mit dem Duft der ekelerregenden Rosen verpestet war. So stolperte sie den Flur entlang und schnappte den erstbesten Regenschirm. Dann taumelte sie aus dem Haus und kämpfte sich durch das Feld. Mannshoch ragten die blutroten Blüten in die Höhe. Sie flüsterten sich wohl etwas zu, denn sie raschelten eigenartig rhythmisch und neigten sich fast altehrwürdig im Wind. Vielleicht verursachte aber auch der peitschende Regen jenes unheilverkündende Geräusch. Schritt für Schritt lief Meredith an den Blumen vorbei, den gezückten Schirm in der Hand und stets peinlich darauf bedacht, keine der Pflanzen zu berühren. Doch wieder griffen sie sie an; schon kamen die ersten Stacheln zum Zuge und forderten Blut. Es schmerzte, als hätten die Rosen ihr ein schleichendes Gift injiziert. Die Arme mit Kratzern übersät, ließ sie schließlich das Gut hinter sich und trat hinaus auf die Landstraße.
Es war ein öder Sommernachmittag. Der Regen prasselte unaufhörlich nieder und der ganze Ort gähnte vor Langeweile. Meredith schlug den Weg hinab ins Tal ein, denn da sah sie etwas, das wie ein Friedhof anmutete. Möglicherweise war Rose dort bestattet. Ein Gefühl der Bange beschlich sie. War es nicht eigenartig, dass Stanley niemals von Roses Grab sprach oder es besuchte? Neugier, aber auch Hoffnung keimte in ihr auf. Vielleicht würde es sie ja beruhigen, den Namen »Rose Tucker« auf einem Leichenstein zu lesen. So trieb es sie hinunter zum Kirchhof, als brauchte sie eine Bestätigung für den Tod ihrer Vorgängerin.
Der Gottesacker des Dorfes war überschaubar und liebevoll gepflegt. Man spürte, dass hier in dieser kleinen Ortschaft die Toten nicht vergessen waren. Tuckers Blumen zierten die meisten Gräber, was Meredith etwas befremdete. Nur eine einzige verwahrloste Grabstätte fiel ihr auf. Von weitem sah sie einen kahlen Stein aufragen - einen groben Block mit abgerundeten Ecken und schief eingemeißelten Lettern. Sie trat näher und blickte auf das nackte Fleckchen Erde. Ihr Herz stand vor Entsetzen still und der Atem stockte ihr, als sie den eingeritzten Namen las: Rose Tucker.
Da war nichts außer jenen hingeworfenen zehn Buchstaben - keine Daten, kein Gebet, kein Abschiedsgruß, kein Blumengebinde, nur eine Stele, die wirkte, als ob ein Engel sie im Vorbeigehen verloren hätte. Meredith verharrte erschüttert an der letzten Ruhestätte der Toten. Was immer sie auch zu spüren glaubte in dem Haus mit seinen dumpfen Mauern auf dem Gut mit den Rosenfeldern - es musste ein Hirngespinst sein. Rose lag hier unten; sie war nicht mehr. Diese Tatsache erfüllte die junge Frau mit Genugtuung. Doch wie war es zu erklären, dass ihr Mann das Grab seiner großen Liebe derart vernachlässigte? Irgendetwas war hier faul! Es war so faul, dass es zum Himmel schrie!
Meredith war in tiefes Nachdenken versunken. Sie grübelte über Stanleys Verhalten und fragte sich, was Rose wohl für eine Frau gewesen sein mochte. Da wurde sie urplötzlich am Arm gepackt. Sie erschrak und drehte ruckartig den Kopf. - Eine alte Frau stand hinter ihr, eine Greisin mit schlohweißem Haar, runzligem Gesicht und aufgeweckten hellen Augen. Ihr Körper war in ein schwarzes Cape gehüllt.
»Na, Mädchen! Kein Grund, gleich in Panik zu geraten. Ich weiß, dass ich kein hübscher Anblick mehr bin. Dafür kann ich aber nichts. Musst dich beim Herrgott darüber beschweren«, plauderte die Alte ungezwungen.
»Oh, entschuldigen Sie vielmals!«, flüsterte Meredith gedankenverloren. Sie war erleichtert, dass nicht Stanley sie hier aufgespürt oder gar die Tote ihre knöcherne Hand nach ihr ausgestreckt hatte.
»Dieses Grab ist eine Schande für unser Dorf!«, schimpfte die Greisin. »Tucker sollte sich was schämen. Auch wenn sie eine Hexe war, so war sie doch seine Frau.«
»Eine Hexe?«, wiederholte Meredith ungläubig. Sie hatte einen ironischen Zug um den Mund; dennoch lief es ihr eiskalt den Rücken hinunter.
»Man hat sich sonderbare Dinge über sie erzählt: dass sie mit den Rosen geredet und sie mit ihrem Blut gegossen hat ...« Dabei lächelte die Fremde frostig.
»Ach, das sind ja Ammenmärchen!«, widersprach Meredith. »Ich habe mal einen Horrorfilm gesehen, der so ähnlich ging.«
»Glaub mir, Kind! Sie hat ihre Seele an die Rosen verfüttert und nun lebt sie in ihnen weiter. Sie ist nicht tot. Sie schläft nur.«
»Was reden Sie da?«, empörte sich Meredith. »Wir stehen schließlich vor ihrem Grab!«
»Das ist nicht ihr Grab, Kleine!«, belehrte die Alte die junge Frau. »Es ist eine Gedenkstätte, nicht mehr und nicht weniger. - Er könnte zumindest mal ein paar Blumen niederlegen, dieser verrückte Tucker!«
»Was sagen Sie? Eine Gedenkstätte? Wo liegt sie denn dann begraben, wenn nicht hier?« Als Meredith diese Frage stellte, wurde ihr die Antwort darauf bereits klar.
»Er hat sie auf seinem Gut unter den Rosen beerdigt, wie es ihr letzter Wunsch war«, erklärte die Greisin.
»Ihr letzter Wunsch? Ich denke, sie starb bei einem Unfall!« Meredith wurde schwindlig. Sie hatte den Eindruck, dass sie den Boden unter den Füßen verlor.
»Das ist die offizielle Todesursache!«, lachte die Alte ihr eisiges Lachen. »In Wirklichkeit ist sie auf dem Feld verblutet.«
»Das heißt, die Rosen haben sie ermordet?«
»Kindskopf! Was war das bloß für ein idiotischer Film, den du da gesehen hast! Die Rosen verlangten ihr Blut doch nicht - sie gab es ihnen. Tucker fand sie nackt, mit geöffneten Pulsadern und Messerschnitten am ganzen Leib. Sie hatte sich den Blumen geopfert. Sie war eben ein bisschen durchgedreht, bildete sich immer ein, sie sei eine Rose und keine Frau. Wahrscheinlich hieß sie nicht mal Rose. Keiner weiß, woher sie kam, und niemand sah je einen aus ihrer Familie. Für Tucker war sie einfach ein Geschenk der Natur. Man sagt ja, er hätte vor kurzem wieder geheiratet, aber diese Neue kennt hier keiner. Tucker und heiraten! Haha! Das kann ich unmöglich glauben. Der hat seine Rosen! Was braucht er denn eine Frau?!«
Die Alte fasste sie fürsorglich an den Schultern. »Es ist beinah ein bisschen gruselig«, raunte sie. In ihren grauen Augen blitzte Argwohn auf.
»Was ist gruselig?«, hauchte Meredith.
»Du siehst ihr ähnlich, Mädchen!«
»Ich? Wem?«, stammelte sie.
»Rose! Hast die gleichen Augen wie sie.«
»Unsinn!«, rief Meredith barsch. »Sie hatte grüne Augen, meine sind blau.«
»Woher kennst du Roses Augenfarbe? Wie dem auch sei, wenigstens musst du doch deine eigene kennen!« Verständnislos schüttelte die Greisin den Kopf, wobei sich eine widerspenstige Strähne aus ihrem hochgesteckten Haar löste. Alsbald entfernte sie sich, drehte sich aber nach ein paar Schritten um und sagte bestimmt: »Deine Augen sind grün!« Dann ging sie schnurstracks weiter, ohne sich noch einmal umzusehen.
Wie angewurzelt verharrte Meredith auf einem Fleck und konnte keinen klaren Gedanken fassen. Mehr instinktiv als gezielt lief sie schließlich nach Hause, die Straße entlang hinauf zum Landgut ihres Mannes, wo die Rosen flüsterten. Sie hatte den Schirm am Grab liegen lassen, obwohl es in Strömen goss. Die Regentropfen spülten ihre letzte Hoffnung weg.
* * *
Die Rosen auf Tuckers Gut raschelten mit den Blättern und fuhren ihre Stacheln aus, als Meredith zurückkehrte und das Grundstück betrat. Wie von einer bösen Macht gelenkt, verrenkten sie ihre Stiele und bildeten ein schier unentwirrbares Geflecht, so als wollten sie die neue Herrin daran hindern, in ihr Revier einzudringen. Merediths Tränen rieselten mit dem Regen um die Wette. Ihre Nerven lagen blank.
»Ich muss für immer verschwinden!«, schoss es ihr durch den Kopf. »Besser gleich als später!«
Mit dem Mut der Verzweiflung stürzte sie sich in die Rosen und stieß sie gnadenlos von sich. Da fielen einige Knospen von den Stängeln und ein paar dieser floralen Biester seufzten, als sie sie gänzlich niedertrat. Nie mehr wollte sie sich von ihnen peinigen und von Tucker ignorieren lassen. Bald würde dieser Albtraum ein Ende haben. Sie trippelte durch die Diele mit schnellen Schritten. Scheu, fast ängstlich blickte sie nach oben auf das Porträt der wahnsinnigen Rose, die sie mit ihrem spöttischen Lächeln zu verhöhnen schien.
»Und ich soll die Augen dieser Irren haben!«, fauchte sie erbost. »Ich habe blaue Augen - hellblaue Augen - und keine grünen.«
Um sich zu vergewissern, lief Meredith rasch ins Ankleidezimmer und schaute in den Wandspiegel. Doch kann das eigene Antlitz lügen? Gaukelte ihr der Spiegel ein falsches Bild vor? Das nackte Grauen kroch in ihr hoch. Sie schloss die Augen, holte tief Luft und hoffte, beim nächsten Wimpernschlag das vertraute Blau zu sehen; aber wie vorher war da eine fremde Farbe - ein beklemmendes Algengrün, wie sie es nur von Roses Porträt kannte!
Was hatte Stanley Tucker ihr angetan? Was hatte dieses Gut mit seinen unheimlichen, arglistigen Rosen aus ihr gemacht? Angst ergriff sie und drohte sie zu lähmen. Panisch rannte sie in ihr Zimmer und tat letztlich das einzig Richtige, das Vernünftigste seit Anbeginn ihres Aufenthalts auf diesem verfluchten Stück Land: Sie öffnete ihren Kleiderschrank, zog ihren Koffer hervor und warf wahllos all ihre Sachen hinein. Sie wollte weg sein, noch bevor Tucker zurückkäme, aber wahrscheinlich würde er nicht mal versuchen, sie aufzuhalten. Ob er wohl wusste, was hier vor sich ging? Ob er die Anwesenheit seiner toten Frau spürte?
Bruchstückhaft schienen sich die seltsamen Ereignisse plötzlich zusammenzufügen. Mit einem Mal hatte Meredith das Gefühl, in einem Nebel von fremden Erinnerungen zu tappen. Es war ihr, als durchquere sie eine massive Mauer, um auf der anderen Seite als neuer Mensch herauszutreten. Sie sah sich mit Stanley in einer schwarzen Gondel durch die Kanäle Venedigs fahren. Dann hielt sie eine grau gestreifte Katze im Arm. Kurz darauf spielte sie auf einem prächtigen Flügel Beethovens Fünfte. Sie tanzte mit Stanley Walzer. Sie lief einen weißen Palmenstrand entlang. Schließlich saß sie an einem Toilettentisch und kämmte ihr Haar. Aber war das wirklich ihr Haar? Warum hatte sie es als rot in Erinnerung, obgleich es ihr doch goldblond über die Schultern floss? Sie fasste sich an den brummenden Schädel. Hatte sie jemals eine Katze besessen? Wann war sie mit Stanley in Venedig gewesen? Und konnte sie überhaupt Klavier spielen?
Verwirrt ließ sie sich auf der Couch nieder. Warum lag da ein Koffer? Wollte sie denn packen? Und noch so liederlich! Sie brauchte frische Luft und ein wenig Abkühlung. So taumelte sie hinaus in den Garten geradewegs auf die Rosen zu, die miteinander zu sprechen schienen. Meredith glaubte sogar, die Worte zu verstehen.
»Sie ist's!«, flötete eine Blüte in einiger Entfernung. »Ja, sie ist's!«, bestätigte eine andere in der Nähe. Die Stängel machten ihr Platz, die Blumen verneigten sich vor ihr. So spazierte sie durch die ehemals verabscheuten Rosen, bis sie auf Tucker traf.
»Meredith, was machst du hier draußen?!«, herrschte er sie schon von weitem an.
»Meredith? Wer ist das? Nennst du mich jetzt so?«, fragte sie erstaunt. »Stan! Mir ist wahrlich nicht nach Scherzen zumute. Ich fühle mich so schwindlig, als ob da jemand anders in mir wäre, um Besitz von mir zu ergreifen! Das ist sehr seltsam. Ganz sonderbar!« Sie wankte und fiel hin, stand aber wieder auf. »Weißt du vielleicht, ob ich verreisen wollte? Da liegt ein Koffer in meinem Zimmer. Habe ich ihn gepackt oder warst du es?«
»Es muss Meredith gewesen sein!«, sprudelte Tucker aufgeregt hervor. Schnurstracks lief er durch das Feld auf sie zu.
»Wer ist diese Meredith? Etwa eine neue Hausangestellte?« Verstimmt maulte sie: »Du weißt, wie ich es hasse, wenn fremde Leute in meinen Sachen wühlen!«
»Du warst lange weg«, raunte Tucker. Die Tränen auf seinen Wangen vermischten sich mit dem Regen.
»Stan, ich musste vorhin an unsere Hochzeitsreise denken. Weißt du noch - wir beide in Venedig? Die herrliche Fahrt auf dem Canal Grande!« Sie schwelgte in Erinnerungen.
»Ja, und der aufdringliche Gondoliere schmetterte ohne Unterlass ›O sole mio‹, obwohl das Wetter grässlich war.« Tucker jauchzte vor Freude. »Du bist zurück, meine Teuerste!«, rief er und sank vor ihr auf die Knie. Mit beiden Händen umfasste er ihre Rechte und hielt sie wie einen Schatz umklammert. »Meine Liebe, meine Einzige!«, geriet er in Verzückung. Ihre grünen Augen waren wie eine Offenbarung für ihn. Aus Dankbarkeit, mit Hingabe und in ewiger Treue presste er seine durstigen Lippen sehnsüchtig auf ihren Handrücken. »Meine Rose!«, flüsterte er ehrfürchtig.
Hoheitsvoll wie ein Denkmal stand Merediths Körper im Rosenfeld. Er war alles, was von ihr blieb. Ihre Seele war entschwunden, ihr Wille erloschen, ihre Persönlichkeit gänzlich erstickt. Jemand Fremdes hatte sich in ihrem Leib eingenistet! Tucker nahm sie liebevoll in die Arme und drückte sie zärtlich an sich, denn aus ihren Augen sprach ein neues Ich: die unsterbliche Rose.
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