Andrew Nolan war ein kleiner, untersetzter Mann von Mitte vierzig. Als Versicherungsvertreter war er eine Niete, weshalb Ehefrau Tracy Bekannten gegenüber stets meinte, seine übertriebene Ehrlichkeit werde sie eines Tages noch an den Bettelstab bringen. Da die Nolans nicht viel Geld besaßen, trugen sie nur Kleidung von der Stange, fuhren einen fünf Jahre alten Gebrauchtwagen, leisteten sich als Jahresurlaub bloß einen Wochenendtrip in die Umgegend und waren pausenlos auf der Jagd nach Schnäppchen und Sonderangeboten.
Vorige Woche nun hatte Mr Nolan eine Prämie erhalten, die er freudig annahm, weil in seiner Kasse gerade Ebbe war. Jetzt konnte er Sohn und Tochter endlich mal wieder mit Spielzeug überraschen.
* * *
Es war ein trüber Herbsttag, als Mr Nolan loszog, um Geschenke für seine Kinder zu besorgen. Unbarmherzig peitschte der Sturm die kahlen Äste der Alleebäume, die wie schwarze Antennen in den grauen, wolkenverhangenen Himmel ragten. Die Blätter, die sich allesamt in ein unansehnliches Braun verfärbt hatten, tanzten auf den Gehwegen Samba und der Wind heulte sein Lied dazu. Bei jedem Schritt knisterte das dürre Laub unter Mr Nolans Füßen.
Schnurstracks lief er mit stolzem, federndem Gang die Straße entlang, den Aktenkoffer unter den Arm geklemmt. Heute war ein guter Tag! Am Abend wollte er seinem Jungen die gewünschte Modelleisenbahn und seinem Töchterchen eine Puppe überreichen. Die Kinder würden ihn daraufhin sicher in den Bauch zwicken, sich an seinen Hals hängen, ihn an der großen runden Nase ziehen, seine leicht abstehenden Ohren mit den Händchen packen, ihn an den buschigen dunklen Brauen zupfen und ihm vor Freude beinahe seine letzten paar Haare vom Kopf reißen. Und sie würden ihm sagen, dass er der beste Papi auf der ganzen Welt sei, auch wenn er noch immer nach der Pfeife von heute Morgen und dem Knoblauch von gestern Abend roch. Ach, wie entzückend sie doch waren, die lieben Kleinen!
Mr Nolan betrat den winzigen, mit Spielwaren vollgestopften Laden der alten Mrs Weaver, deren Ehemann kurz nach Abschluss einer Lebensversicherung ganz plötzlich verstorben war. (Seither munkelte man, die Ehe der Weavers sei nie die beste und die jetzige Witwe von jeher ein bisschen verrückt gewesen. So hatte wohl die Lebensversicherung das Schicksal des armen Mannes besiegelt!) Mrs Weaver beriet Mr Nolan wie gewohnt. Eine halbe Stunde später verließ er gut gelaunt das Geschäft und machte sich frohgemut auf den Weg nach Hause. Aber dann - er war nur wenige Straßen von seiner Wohnung entfernt - geschah etwas Unglaubliches ...
Die ganze Stadt erzitterte und Mr Nolan fühlte den Boden unter seinen Füßen beben. Die schmucken Häuser, die blank geputzten Autos, die mächtigen Bäume, all die Menschen um ihn herum - nichts schien mehr klare Konturen zu haben. Die Stadt wirkte wie ein verschwommenes Aquarell! Ein alter Herr, der krampfhaft seinen Hut mit beiden Händen festhielt, lehnte sich ermattet an die graue Hauswand rechts und gleichzeitig an die knorrige Eiche links. Das hübsche Häuschen des Bäckers mit seinen zwei spitzen Türmen befand sich im einen Augenblick auf beiden Seiten der Straße, im nächsten war es völlig verschwunden. Einige der Autos hatten sich zu unförmigen Gebilden geballt, andere zu langen Röhren mit vier platten Rädern gedehnt. Die düsteren, blattlosen Baumskelette am Gehsteigrand beugten sich ächzend im Wind. Auf ihren Zweigen hockten wie schwarze, formlose Klumpen erschrockene Vögel, deren furchtsames Geschrei leicht vibrierte. Laub wirbelte durch die Luft wie ein Schwarm von aufgescheuchten braunen Käfern. Allein die Wolken zogen seelenruhig am Himmel, so als wäre dies ein Tag wie jeder andere.
Mr Nolan nahm das Geschehen wahr, ohne wirklich zu begreifen, was hier vor sich ging. Wieder und wieder rieb er sich die Augen. Der schwankende Grund ließ ihn taumeln, als ob er seekrank wäre. Fiel er oder flog er? War die Welt soeben aus den Fugen geraten? Würde sie gleich zerbersten oder stürzte sie eher ein?
Plötzlich hallte ein Donner durch die Luft, als sei die Erde entzweigebrochen! Augenblicklich schien die Stadt in den Normalzustand zurückgekehrt zu sein. Der Boden war ruhig, die Blätter raschelten leise, Autos rauschten vorbei, Leute hasteten über die Straße, eine elegante Dame tätschelte ihr Hündchen, eine junge Frau rollte ihren Kinderwagen über das Kopfsteinpflaster und der alte Herr rückte seinen Hut zurecht und setzte unbeirrt den Weg fort.
Das Ereignis war offenbar an allen spurlos vorübergegangen. Nur Mr Nolan war verwirrt. Unentschlossen lief er vorwärts. Sobald er zu Hause ankäme, müsste er gründlich über alles nachdenken. Bis dahin sollte es jedoch noch weit sein, denn als er in die nächste Seitengasse einbog, bot sich ihm ein furchterregender Anblick - ein Mittelding zwischen Albtraum und Science-Fiction!
Die Straße lag ruhig vor ihm bis dahin, wo eigentlich rechts ein kleiner Park begann, der sich bis über die große Kreuzung hinaus erstreckte. Jetzt allerdings war diese sonst viereckige Grünanlage zu einem schmalen Dreieck verformt. Sie befand sich in der Fahrbahnmitte, und rechts wie links von der vorderen Spitze des von Bäumen umsäumten Dreiecks verlief die eine Straße, die Mr Nolan nach Hause führte, in zwei verschiedene Richtungen!
Der Arme konnte nicht glauben, was er da sah. Kopfschüttelnd setzte er die mit Spielzeug prall gefüllte Einkaufstasche ab. Er hielt die Hand vor die Augen, in der Hoffnung, dass ihn nur ein böser Traum narrte. Als er aber wieder aufblickte, war alles unverändert. Die Straße blieb weiter gespalten, wie durch einen phantastischen Trick verdoppelt, als ob jemand blitzschnell mit Hilfe eines riesigen unsichtbaren Spiegels eine künstliche zweite Welt erschaffen hätte.
Mr Nolan beschloss, das Phänomen näher zu untersuchen. Er packte die Spielsachen und lief auf die Spitze des Parks zu. Dort angelangt, stellte er erneut den Beutel ab. In welche Straße sollte er jetzt einbiegen? Welche war echt und welche die Täuschung? Oder waren sie beide real? Er ging ein paar Schritte weiter, bald in die eine, bald in die andere Richtung. Dann entschied er sich dafür, einfach stehen zu bleiben und abzuwarten, was geschehen würde.
Lange grübelte er nach. Konnte er nicht irgendeinen anderen Weg einschlagen? Nun war B. leider kein großer Ort, und das Viertel, in dem er wohnte, war ringsumher von unpassierbaren Sümpfen umgeben und deshalb nur über diese eine Straße zu erreichen. Ach, wäre wenigstens noch jemand anders zugegen gewesen! Zur Mittagszeit jedoch war B. wie ausgestorben.
Da erblickte Mr Nolan auf der rechten Seite in einiger Entfernung eine alte, mit einem hellblauen Kostüm bekleidete Frau, deren weißes Haar ebenso bläulich schimmerte wie das Fell ihres Pudels. Es konnte sich dabei bloß um Mrs Stone handeln, die jedermann »die blaue Dame« nannte. Mr Nolan hüpfte das Herz vor Freude. Wenn die verrückte Alte dort spazierte, dann hatte er seinen Heimweg gefunden, denn wo sie lustwandelte, war sein Zuhause nicht mehr weit. Er schnappte seine Einkaufstasche und lief nach rechts, hielt aber unvermittelt inne; denn gerade, als er abbiegen wollte, sah er, wie der dicke Gemüsehändler Thommy die Hundebesitzerin mit seinen fleischigen Armen umfasste und ungeschickt zwischen Tomaten und Bananen einen Walzer mit ihr tanzte. Hierbei lachte Mrs Stone und ihr Pudel bellte.
Mr Nolan stutzte. Er traute seinen Augen kaum. Konnte das real sein? Würde die vornehme Mrs Stone auf offener Straße mit einem unbedeutenden Gemüsehändler Walzer tanzen? Eher unwahrscheinlich. Das war nicht die Mrs Stone, die er kannte. Also machte er auf dem Absatz kehrt und ging zurück zur Spitze des verformten Parks, wo sich offenbar zwei Wirklichkeiten überschnitten.
Wenn die rechte Seite die falsche war, dann musste die linke eigentlich die richtige sein, so folgerte Mr Nolan. Ohne länger darüber nachzudenken, bog er nach links ab, und da sah er erneut die beiden einzigen Menschen im Straßenbild: Mrs Stone und Thommy, den Gemüsehändler. Hier allerdings verlief die Szene weniger friedlich. Der dicke Thommy warf mit Tomaten nach der kreischenden »blauen Dame«, so dass der rote Saft von ihrem Kostüm tropfte, und ihr Pudel, der ab und zu auch etwas abbekam, jaulte kläglich und zog an der Leine.
Andrew Nolan blieb zögernd stehen. Der gutmütige Thommy brächte es nicht übers Herz, mit Tomaten auf eine ältere Dame zu zielen. Das war ganz bestimmt nicht der Thommy, den er kannte. Wieder machte er kehrt und ging enttäuscht zu seinem Ausgangspunkt zurück. Nach der Prüfung beider sich bietenden Realitäten war er genauso schlau wie vorher und obendrein verwirrt, denn er hatte fast den Eindruck, dass die eine so falsch war wie die andere.
Da stand er nun, der arme Mr Nolan, und wusste weder aus noch ein. Er musste wählen zwischen jenen zwei Welten. Doch wie befremdlich schienen sie beide zu sein! War aber keine von ihnen real, wo war dann seine eigene geblieben? War sie einfach so verschwunden oder hatte sie sich auf zwei neue Wirklichkeiten verteilt? Konnte er es überhaupt wagen, auf einer der Straßen nach Hause zu laufen? Wäre ihm hinterher der Rückweg vielleicht für immer versperrt? Und wenn Mrs Stone und Thommy schon so ausflippten, was erwartete ihn erst daheim? Würde seine spröde Tracy ihn plötzlich liebevoll umsorgen oder würde sie es machen wie die Witwe vom Spielwarenladen? In welche Richtung sollte er nur gehen?!
So verharrte er unschlüssig auf demselben Fleck, den Beutel zu seinen Füßen. In seinem ganzen Leben hatte er keinen Gedanken an die Existenz von Parallelwelten oder Rissen in Raum und Zeit verschwendet. Auf solch eine Situation war er einfach nicht vorbereitet.
* * *
Viele Stunden waren seit dem Beben vergangen und es dämmerte bereits. Kein Mensch weit und breit. Fremde Hilfe war nicht mehr zu erwarten.
Für Mr Nolan gab es somit folgende Möglichkeiten: Er konnte eine der beiden Welten betreten oder sich umdrehen und nie wieder heimkehren. Seine Familie wollte er aber keinesfalls verlassen; dafür liebte er seine Kinder viel zu sehr. Also musste er zwischen jenen zwei Straßen wählen. Und letzten Endes entschied er sich für die rechte, weil ihm eine Walzer tanzende Mrs Stone doch etwas einladender erschien als ein Tomaten werfender Thommy.
Kaum war er an der nächsten Kreuzung abgebogen, erzitterte der Erdboden erneut. Mr Nolan brach der Angstschweiß aus. Mit hastigen Schritten lief, ja rannte er zurück. Die altbekannte Straße aber lag friedlich und schnurgerade da: die Fahrbahn auf der einen, der lang gestreckte Park auf der anderen Seite. Die Welt war wieder in ihrem festen Gefüge.
Mit klopfendem Herzen lenkte Mr Nolan seine Schritte nun in Richtung Wohnung. Als das Mietshaus schon in Sichtweite war, kam ihm seine Nachbarin entgegen.
»Guten Abend, Mrs Hughes!«, grüßte er höflich.
»Guten Abend, Mr Nolan! So spät noch unterwegs? - Was haben Sie denn Schönes eingekauft?« Mit ihren dürren Fingern deutete sie auf die Tasche.
»Spielzeug für die Kinder«, entgegnete er.
»Ach ja!«, seufzte Mrs Hughes, ein seliges Lächeln auf ihrem runzligen Gesicht. »Ihre beiden Kinder sind lieb. Auch Ihre Tracy ist immer freundlich und hilfsbereit. Sie sind ein Glückspilz, Mr Nolan!« Mit diesen Worten ging sie vorüber.
»Typisch!«, dachte er. »Die stimmt ständig Lobeshymnen an.« Das altgewohnte Verhalten seiner Nachbarin ließ ihn hoffen. Bei einer Wahl zwischen nur zwei verschiedenen Welten war die Wahrscheinlichkeit groß, dass er zufällig in die richtige gelangt war.
Schließlich betrat Mr Nolan seine Wohnung. Die Kinder kamen sofort zur Tür gerannt und umringten ihren Vater. Sie entrissen ihm freudig Eisenbahn und Puppe und dankten es ihm auf die eingangs beschriebene Weise. Ehefrau Tracy keifte die ganze Zeit, machte ihm Vorhaltungen, dass er zu lange fortgeblieben und wo er überhaupt gewesen sei. Dann zählte sie ihm alle Plätze am Ort auf, wo ein Mann sein Geld sinnlos verpulvern kann, obwohl sie genau wusste, dass die Moneten für die Spielsachen draufgegangen waren. Bei Tisch sprach man kein Wort. Nach dem Essen lagen sich die Kinder wie jeden Abend wegen irgendwelcher Kleinigkeiten in den Haaren und balgten sich kampflustig auf dem Boden, bis Tracy den Streit mit schallenden Ohrfeigen beendete.
»Dauernd diese Zankerei!«, schimpfte sie vor sich hin. »Und du sagst nie ein Wort dazu!«, warf sie ihm vor. Dabei klapperte sie mit dem Abwasch.
Mr Nolan saß auf seinem Stuhl und betastete liebevoll das schmuddelige Polster. Seine Miene verriet Glückseligkeit. Es war alles beim Alten geblieben, nichts hatte sich verändert - nicht einmal das Muster der fleckigen Tapete. Sogar das Loch, das Tracy versehentlich mit der Zigarette in die Gardine gebrannt hatte, war vorhanden.
»Ich rede über unsere ungezogenen Kinder und du findest das auch noch schön!«, herrschte sie ihn an, doch er strahlte übers ganze Gesicht. »Du bist unmöglich, Andy! Wie konnte ich dich nur heiraten!« Und wieder klirrte das Geschirr.
* * *
Es ist Mitternacht, als Andrew Nolan erwacht. Tracy liegt neben ihm und schnarcht leise. Er richtet sich im Bett auf und reibt sich verwundert die Augen, denn der Raum wirkt ungewöhnlich hell. Zwei breite, silberne Lichtkegel scheinen fahl in das Schlafzimmer, was ihn sehr beunruhigt. Mr Nolan steht auf, geht zum Fenster und lehnt sich hinaus. Draußen ist es windstill, die Luft riecht stickig. Eingehend betrachtet er nun die Straßenlaternen; sie leuchten jedoch nur schwach. Ein Blick nach oben aber lässt ihn erschauern! Zwischen den funkelnden Sternen grinsen zwei weiße Monde auf ihn herab - der eine altbekannt und klein, der andere etwa dreimal größer.
|