Tabaka Derby Messer's Gesammelte Horrorgeschichten - Band II
Acht Gruselgeschichten & ein Gedicht       ©  2006  Heike Hilpert, Selbstverlag
 Titel
 Vorwort
 Inhalt
 Die Wege des Mr Nolan
 Der Kettenraucher
 Der Flaschengeist
 Der Zombie speist um Mitternacht
 Mr Howard im Paradies
 Die Botschaft
 Der geometrische Hund
 Kleine Plauderei
 Der Vampir
 Information zur Autorin
 Literaturhinweis
 Impressum
Der Flaschengeist

  Wieder einmal sitze ich an meiner Bucht. Eine weiche Decke habe ich ausgebreitet und mich darauf niedergelassen. Wohin auch immer ich reise, nirgends fühle ich mich so frei von allen Zwängen, werde so eins mit der Natur, bin so glückselig wie an jenem Ort. Diese von Felsen umgebene Bucht nenne ich mein Eigen, weil keiner sie beansprucht, keiner sie besucht. Ein idyllisches Fleckchen Erde, das mir gehört, ein Platz, wo ich ungestört über vieles nachsinnen kann.
  An jedem Nachmittag komme ich hierher, lasse meinen Blick über die See schweifen bis zum Horizont und reite in Gedanken auf den Wogen. Ich schwinge mich auf den Rücken eines Vogels, der mit seinen Kameraden gen Süden zieht, oder fliege mit den Wolken und lasse mich vom Sturm treiben, rufe der Sonne einen Gruß zu, wenn sie kurz vor ihrem Abschied als Feuerball auf dem Meer zu schwimmen scheint, lausche dem Wind, der manchmal raunt und manchmal heult, ertrage seine Launen, wenn er mein Haar zerzaust, und leide mit den dürren Grashalmen, die er biegt und knickt, denn nur wenige kühne Pflänzchen kriechen aus dem kargen, steinigen Boden hervor.
  Heute habe ich es mir auf der felsigen Landzunge gemütlich gemacht. Ich genieße die wärmende Abendsonne und die Aussicht über die geschützte Bai, wo die sich kräuselnden Wellen auf den körnigen gelben Sand treffen, und schaue hinüber zum gegenüberliegenden Kap, das mir den Blick auf die Küstenlinie verstellt, indem es trotzig den Weg versperrt.
  Nun ist es wieder Zeit für einen kleinen Spaziergang. Wie jeden Tag wandere ich hinunter an meinen Strand und dann zum Kliff vis-à-vis, doch erklommen habe ich es noch nie. Schon oft bin ich den Pfad hinangestiegen, aber immer auf halbem Wege umgekehrt. Ein Gefühl der Angst beschleicht mich dort stets. Nein, ich werde gewiss keinen dieser törichten Versuche mehr unternehmen, um zu ergründen, was jenseits der mächtigen Felsen liegt. Was mich betrifft, endet hier die Welt, und dahinter befindet sich nichts, was für mich von Bedeutung ist.
  Hoppla, fast wäre ich gestürzt! Worüber bin ich bloß gestolpert? Das Meer hat eine Flasche aus dickem, milchigem Glas angespült. Sie ist mit einem Korken verschlossen. Ich hebe sie auf, drehe und rüttle sie, halte sie an mein Ohr. Etwas klappert darin. Aus Neugier öffne ich das Gefäß. Da purzeln drei zusammengefaltete Blätter Papier heraus. Eine Flaschenpost! Welch freudige Überraschung! Ich stopfe die Zettel in meine Jackentasche, stöpsele die Flasche zu und klemme sie unter den Arm. Eilends kehre ich an meinen Platz zurück, denn ich kann es kaum erwarten, zu erfahren, was die Fremden aus der Ferne mir mitteilen wollen.
  Endlich angelangt, hole ich die drei Botschaften hervor. Die erste entfalte ich sogleich. In verblasster schwarzer Tinte steht da geschrieben:


Ich heiße Edward Fletcher und bin 53 Jahre alt. Diese Nachricht hinterlasse ich für alle, die dem Flaschengeist begegnen, der unsere Meere unsicher macht. Er erfüllt euch jeden Wunsch, doch er gibt nicht, ohne auch zu nehmen. Viele Gerüchte kursierten über ihn in meinem Dorf, ich glaubte keines davon, und als ich eines schönen Abends am Strand spazieren ging, hob ich nichts ahnend eine Flasche auf. Weil es in ihrem Inneren raschelte, entkorkte ich sie. Ich stülpte sie um, aber sie war leer. Trotzdem schien es mir, als ob ein grauweißer Nebel in ihr wallte. Ich schüttelte sie heftiger, warf sie schließlich vor Wut in den Sand. Da kroch ein dichter Rauch aus ihr hervor, der sich allmählich zu einer riesigen, geisterhaften Gestalt ohne klaren Umriss formte. Plötzlich hub die Erscheinung an zu sprechen. Ihre donnernde Stimme grollte: »Warum hast du mich aus dem Schlaf gerissen?« Ich taumelte erschrocken zurück. »Ich wusste ja nicht - ich wollte nicht - es tut mir leid - ich ahnte nicht, dass ...«, stammelte ich. Der Flaschengeist gab einen Laut von sich, der an ein Gähnen erinnerte. »Nun, du Winzling, wenn du schon meine Ruhe gestört hast, dann plaudere mit mir! Ich führte lange kein Gespräch mehr mit einer Kreatur wie dir.« Innerlich verspürte ich den Drang, einfach wegzulaufen, aber wie angewurzelt stand ich da und konnte mich nicht rühren. So unterhielt ich mich mit dem mächtigen Wesen, erzählte ihm fast meine ganze Lebensgeschichte und berichtete ihm von den technischen Errungenschaften der Menschheit, in der Hoffnung, ihm damit etwas Respekt einzuflößen. Nach einer Weile fühlte ich mich völlig ausgelaugt. Meine Kehle war trocken, mein Magen knurrte und die Beine taten mir weh. Stundenlange Konversation bin ich eben nicht gewohnt. Nun ist der Flaschengeist glücklicherweise ein recht verschlafener Gesell; daher begann er mitten im Gespräch zu schnarchen. Als ich die Gelegenheit nutzen und mich entfernen wollte, wachte er jedoch auf und ließ seine dröhnende Stimme hallen: »Du hast mir die Zeit recht kurzweilig vertrieben, deshalb gewähre ich dir einen Wunsch.« Wie nobel! Ich hatte einen Wunsch frei! Mir hüpfte das Herz vor Freude. Nach allem, was ich an diesem Abend erlebt hatte, zweifelte ich keinen Augenblick an seiner Fähigkeit, mir jede erdenkliche Bitte zu erfüllen. »Entscheide dich schnell, Winzling!«, brüllte er. Ich habe nicht die leiseste Ahnung, warum ich nicht Gesundheit, die Rückkehr meiner Jugend oder das ewige Leben von ihm forderte. Endlich Erfolg, viel Geld oder uneingeschränkte Macht - es hätte so einige sinnvolle Dinge gegeben. Ich hätte von ihm verlangen können, dass mein längst ausgefallenes Haar neu sprießt oder meine ständig keifende Ehefrau über Nacht stumm wird. Ich hätte mir wünschen sollen, dass alle Waffen plötzlich unbrauchbar werden oder dass es keine Kriege, keinen Hunger und keine Missernten mehr gibt. Stattdessen rief ich: »Ich wünsche mir ein Auto, um nicht zu Fuß zur Fabrik laufen zu müssen.« Vielleicht lag es ja daran, dass er mich drängte, oder daran, dass ich mich tags zuvor wegen dieses Themas mit meiner Frau fürchterlich gestritten hatte - jedenfalls sprach ich jene einfältige Bitte aus. »Dein Wunsch wird dir erfüllt!«, rief der Geist, gähnte herzhaft und verschwand in seiner Flasche, die ich sodann verschloss und mit nach Hause nahm. - Am nächsten Morgen erwachte ich, als meine Frau energisch die Tür aufstieß. Verwirrt und erbost blickte sie mich an. »Unten steht ein Autohändler. Er hat einen Wagen vor unserer Tür geparkt und behauptet, dass du ihn gewonnen hast. Möchte bloß wissen, was du in deiner Freizeit treibst!« Erregung benebelte mich. Ich musste aufstehen, ans Fenster gehen und nachschauen, welch herrliches Gefährt mir der Flaschengeist geschenkt hatte. Im Freudentaumel riss ich die Bettdecke weg. Welch grauenhafter Anblick! Er hatte mir ein Auto gegeben und dafür meine Beine genommen! Meine Frau schrie wie am Spieß - ich gab keinen Laut von mir. Das nackte Entsetzen lähmte mich und kalter Schweiß stand mir auf der Stirn. Den Blick konnte ich nicht abwenden von diesen beiden Beinstümpfen. Ich wollte es nicht glauben. Schließlich fasste ich mich doch, denn noch war ja nicht alles verloren. Der Geist mitsamt seiner Flasche befand sich in meinem Besitz, und da er sich einmal großzügig gezeigt hatte, wäre er es vielleicht auch ein zweites Mal. Ich sollte ihn einfach ersuchen, die Sache rückgängig zu machen, und mich für die Mühe, die ich ihm dadurch bereitete, in aller Form entschuldigen. Also bat ich meine Frau, die sich von Weinkrämpfen geschüttelt auf dem Boden wand, die Flasche herzubringen. »Die habe ich in die Mülltonne geworfen!«, rief sie jammernd. - »Dann hol sie zurück!«, herrschte ich sie an. »Wie konntest du sie nur wegschmeißen, dummes Ding!« - »Was bildest du dir ein, du widerlicher Säufer!«, heulte sie auf. »Soll ich denn deinen ganzen Abfall aufbewahren?« - »Ach, du hast nichts begriffen!«, fuhr ich sie an. »Hol endlich die Flasche, und zwar schnell!« Ich geriet außer mir vor Wut und machte insgeheim meine Frau für das Missgeschick verantwortlich. Sie schwor aber beim Leben ihrer greisen Mutter, dass sie die Flasche gerade erst beseitigt hatte. »Lass mich jetzt allein!«, befahl ich ihr schroff. Gekränkt wandte sie sich ab. An der Tür drehte sie sich noch einmal um, sah mich mit traurigen Augen an und sagte: »Nun ist es so weit.« - »Was?«, fragte ich naiv. - »Ich werde dich verlassen«, meinte sie knapp und klappte die Tür zu. Ich hörte das Poltern von Koffern. Sie hatte wohl schon in der Nacht zuvor gepackt. Ihr Entschluss stand sicher seit langem fest. Ich bin von jeher ein unausstehlicher Trunkenbold gewesen, doch sie war auch keine Traumfrau; deshalb kümmerte ich mich nicht weiter um sie. Meine ganze Konzentration galt jetzt allein dem Flaschengeist, denn es erforderte Fingerspitzengefühl von mir, wenn ich meine Beine wiederhaben wollte. Ich entkorkte das Gefäß und rief: »Hallo! Guten Morgen, Herr Geist!« Im Innern der Flasche tat sich nichts. Ich rüttelte sie. Keine Reaktion. Da fiel mir ein, dass das Wesen einen ziemlich festen Schlaf hat und erst erwacht war, als ich seine gläserne Behausung in den Sand geworfen hatte. Weil ich nicht aufstehen konnte, blieb mir nichts anderes übrig, als die Flasche zu Boden fallen zu lassen. Ich hoffte, dass der Teppich den Aufprall milderte, denn wenn sie zerschellte, wäre alles dahin. - »Warum störst du meine Ruhe, Winzling? Gab ich dir nicht, was du wolltest?« Des Flaschengeists volltönende Stimme klang mürrisch. - »Doch!«, erwiderte ich und lächelte gequält. - »Was willst du noch von mir, undankbarer Wurm?«, entgegnete er unwirsch. - »Ich denke, Sie haben mich gestern missverstanden«, versuchte ich zu erklären. - »Missverstanden?«, verhöhnte er mich mit schallendem Gelächter. »Du wolltest ein solches Vehikel, um nicht mehr zu Fuß gehen zu müssen. Jetzt hast du ein Automobil. Wozu brauchst du dann diese Dinger aus Fleisch, die du Beine nennst?« - »Man kann nicht überall fahren. Im Haus zum Beispiel muss ich laufen«, erläuterte ich meinen Wunsch nachträglich genauer. - »Das hättest du gleich sagen sollen!«, schalt er unbarmherzig. »Nun ist es geschehen.« - »Aber Sie wären imstande, es rückgängig zu machen! Sie können das Auto wieder mitnehmen, wenn Sie mögen«, jammerte ich, denn ich sah meine Chancen schwinden. - »Was soll ich mit diesem rollenden Kasten? Hahaha!« Der Geist offenbarte seine ganze Grausamkeit. »Was bietest du mir als Gegenleistung, Winzling?« - »Ich berichte Ihnen weiter von den Menschen, von unserer Kultur, unserer Lebensart, von der Schönheit der Natur ...«, bot ich in meiner Verzweiflung an. - »Nichts, was du mir noch erzählen könntest, ist für mich von Interesse. Und jetzt lass mich schlafen! Ich bin unendlich müde.« - Er schlüpfte in seine Flasche. Ich war allein. Wutentbrannt schmetterte ich das Gefäß zu Boden und an die Wand, doch es kam stets unversehrt zu mir zurück. Ich raffte mich auf, ließ mich aus dem Bett plumpsen, schleppte mich in die Diele bis zum Besenschrank, holte einen Hammer aus dem Werkzeugkasten hervor und schlug mit aller Wucht auf die Flasche ein - vergebens! Erst da begriff ich, dass sie unzerstörbar ist. Plötzlich wurde mir das ganze Ausmaß meines Elends bewusst. Wohin ich sie auch werfen würde, wo immer ich sie versteckte - irgendwann fiele sie erneut einem Narren wie mir in die Hände. Ich musste einen Weg finden, dem vorzubeugen. So schrieb ich diese Zeilen mit der Gewissheit, dass sich derjenige, der sie liest, die Zukunft nicht so verbaut wie ich. Ein Bekannter, der ab und zu mal nach mir sieht, wird das Gefäß samt Post dem Meer übergeben.

Ihr Edward Fletcher


  Ungläubig starre ich auf den Zettel und die leere Flasche, die neben mir auf dem Boden liegt. Noch einmal überfliege ich den Bericht. Das alles scheint mir zu phantastisch. Kopfschüttelnd zerknülle ich die Botschaft und stecke sie zurück in meine Jackentasche. Dann nehme ich das zweite Blatt Papier zur Hand.


Wer diese Nachricht liest, sei vor dem Flaschengeist gewarnt, der mir begegnet ist und nur Unheil gebracht hat. Doch lassen Sie mich von vorn anfangen. - Mein Name ist Melissa Walton. Ich bin einundvierzig Jahre alt, glücklich verheiratet und Mutter von zwei Kindern. Früher gingen wir vier fast jeden Abend bei Sonnenuntergang gemeinsam am Meer spazieren, so auch an einem verhängnisvollen Dienstag im letzten Frühjahr. Während wir nun so schlenderten, raste plötzlich unser kleiner Hund davon, blieb vor einer leeren Flasche stehen und bellte laut. Als wir näher kamen, hatte er sich vor jener Flasche postiert und knurrte bloß noch. Das war schon eigenartig, denn eigentlich ist er ein ruhiges Tier und trottet meist still und brav neben uns her. Weil ich ziemlich ordentlich bin, gefiel mir der Unrat am Strand freilich gar nicht. Deshalb hob ich das Gefäß auf, um es in den nächsten Abfalleimer zu werfen. Aber das unaufhörliche, ängstliche Winseln, das unser Hund anstimmte, verriet mir, dass dies keine gewöhnliche Flasche war. Neugierig, wie ich bin, entkorkte ich sie. Da gelangte die Mitteilung von Edward Fletcher in meine Hände. »Sieh mal, eine Flaschenpost!«, rief ich entzückt meinem Mann zu. - »Nehmen wir sie doch mit!«, schlug er vor. »Vielleicht können wir uns mit dem Absender in Verbindung setzen.« - Ich war sofort Feuer und Flamme und unsere beiden Töchter ebenso. (Wir sind ein bisschen romantisch veranlagt, müssen Sie wissen, und eine Flaschenpost hat nun wirklich etwas Abenteuerliches.) Als wir wieder zu Hause waren, setzten wir uns geschwind an den großen Esstisch, wo ich gleich Fletchers Brief vorlas. »Das ist ja kompletter Unsinn!«, urteilte mein Mann, und unsere Töchter wandten sich enttäuscht ab. Auch ich hielt Fletcher für einen Spinner. Trotzdem will ich jeder Sache selbst auf den Grund gehen. Hätten die anderen gewusst, dass ich seinen Worten Glauben schenkte, hätten sie mich glatt für verrückt erklärt. Deshalb empfand ich eine gewisse Scham. Um Fletchers Bericht also möglichst unbemerkt zu prüfen, schlich ich mich noch in derselben Nacht aus dem Schlafzimmer, schnappte mir die Flasche, öffnete sie und ließ sie die Treppe hinabkullern. Tatsächlich kroch aus dem Flaschenhals ein gräulicher Nebel, der sich allmählich zu einer Art Körper materialisierte! Er hatte schier endlos lange, kräftige Beine und fürchterlich große Füße. Seine mächtigen Arme hatte er vor der Brust verschränkt. Auf seinem dicken Hals saß ein riesiger Kopf mit herabhängenden runden Ohren und einer Knollennase. Die Struktur der Gestalt war wolkig und ohne festen Umriss; daher konnte ich keine weiteren Einzelheiten erkennen. Ich sah fast ehrfürchtig zu ihm auf, denn er nahm den gesamten Raum des Treppenhauses bis zur Decke ein. Doch kaum hatte sich das Wesen in voller Größe aufgebaut, grollte es auch schon: »Weshalb hast du meine Ruhe gestört, Weib?« Seine Stimme donnerte durch das ganze Haus, so dass die Wände bebten und die Gerätschaften im Besenschrank klirrten. Mein Mann und die Kinder regten sich aber nicht. Nur unser Hund kauerte angsterfüllt in der Ecke und jaulte. - »Um ehrlich zu sein, ich zweifelte an Ihrer Existenz«, entgegnete ich. - Der Geist ließ ein grausames, kaltes Lachen durch den Korridor hallen. »Ihr Menschen seid erbärmliche Geschöpfe«, stellte er ärgerlich fest. - »Ist es - ist es wahr, dass - dass Sie - ich meine - ist es wahr, dass Sie einen Wunsch erfüllen, wenn man Ihnen etwas dafür gibt? Ich könnte zum Beispiel - nun, ich könnte Ihnen eine Geschichte vortragen«, stotterte ich aufgeregt. - »Welche?«, fragte er. (Es war mir also gelungen, seine Neugier zu wecken.) »Ich höre gerne Geschichten, doch ich kenne sie alle. Ihr Winzlinge erzählt stets das Gleiche. Ihr habt nichts Neues zu berichten.« - »Das ist nicht wahr!«, verteidigte ich mich. »Ich habe ein paar schöne Märchen für meine Töchter geschrieben. Sie wurden nie veröffentlicht und kein Außenstehender hat sie je gelesen. Es ist völlig ausgeschlossen, dass sie Ihnen bekannt sind.« - Das Wesen hatte ein offenkundiges Interesse an meinen Geschichten. So vertrieb ich mir die Nacht damit, einen gelangweilten Flaschengeist mit Märchen zu unterhalten, die ich mir eigentlich für meine Kinder ausgedacht hatte. Weil ich eine recht gute Erzählerin bin, hielt ich ihn lange bei Laune. Erst nachdem ich die letzte Story preisgegeben hatte, gewährte er mir zum Dank für meine Mühe einen Wunsch. Da wurde ich ein Opfer meiner Eitelkeit und bat ihn: »Ich möchte schlanker werden.« Daraufhin versprach er mir: »So soll es sein!« Mit diesen Worten schlüpfte er zurück in seine Flasche. - Nun war ich ja immer etwas füllig; im Jahr zuvor aber hatte ich sehr zugenommen. Meine Kleider wurden samt und sonders zu eng. Ich war unzufrieden und verglich mein Aussehen ständig mit dem der anderen Frauen in meiner Bekanntschaft. Manchmal plagte mich der Neid, und mitunter misstraute ich selbst meinem Mann, obwohl er mir stets aufs Neue beteuerte, dass meine Figur ihm nicht wichtig sei. Diäten, Pillen und Gymnastik - ich hatte wirklich alles versucht und doch kein Pfund verloren. Sie können sich also gewiss vorstellen, wie mich die Aussicht auf eine baldige Besserung dieses Zustands aufmunterte. - Am nächsten Tag trat auch bereits die erste Veränderung ein: Mein Rock war plötzlich zu weit. Tags darauf rutschte mir derselbe Rock von der Taille bis zu den Hüften. Sogar mein Mann, der keinen Sinn für Äußerlichkeiten hat, musterte mich eingehend und meinte schließlich, ich sei schmal geworden. Schon zwei Wochen später hatte ich eine Traumfigur. Ich jauchzte vor Freude! Der Flaschengeist hatte tatsächlich sein Wort gehalten. Leider stellte sich aber heraus, dass er nicht wusste, wann eigentlich Schluss sein sollte. Ich hatte meinen Wunsch wohl nicht genau genug formuliert. Zu meinem Schrecken wurde mir klar, dass dies eine Schlankheitskur ohne Ende ist! Von da an magerte ich zusehends ab und war bald nur noch ein wandelndes Knochengerippe. Als ich den Geist ein zweites Mal weckte und auf Knien um Gnade flehte, zeigte er sein wahres Gesicht und verhöhnte mich bloß. Als ich ihm anbot, neue Märchen zu erfinden, lehnte er unnachgiebig ab. Wie mein Leidensgenosse Edward Fletcher versuchte ich in meiner Wut, seine Flasche zu zertrümmern, und wie er scheiterte ich kläglich. Ich warf sie aus dem Fenster, mein Mann fuhr mit dem Auto über sie hinweg und wir überließen sie dem Kaminfeuer. Doch sie ist unverwüstlich und ihr Bewohner lässt alles über sich ergehen. Heute schreibe ich Ihnen diese Zeilen, berichte Ihnen, was mit mir geschehen ist. Noch bin ich am Leben und imstande, wenigstens einen Bleistift in der Hand zu halten; schon morgen kann selbst das unmöglich sein. Mit Entsetzen habe ich feststellen müssen, dass nicht nur mein Fleisch, sondern auch mein Skelett von dieser schrecklichen Schlankheitskur betroffen ist. Meine Knochen schwinden. Alles an mir wird dünner und weniger. Ich fühle, dass der Geist mich am Leben lässt. Aber was für ein Leben erwartet einen Menschen, der dazu verurteilt ist, zu einem eindimensionalen Strich zusammenzuschrumpfen? Werde ich weiterhin wahrnehmen können, was um mich herum passiert? Werde ich mich verständlich machen können? Reden, hören, fühlen? Ich habe nicht die leiseste Ahnung, wie meine Zukunft aussieht. Dieser Brief ist mein Vermächtnis an die Nachwelt. Nehmen Sie sich vor dem Flaschengeist in Acht und richten Sie keine Wünsche an ihn, denn mir scheint, er kann zwar mit uns kommunizieren, jedoch kann oder will er uns nicht verstehen.

Ihre Melissa Walton


  Melissa Waltons Bericht ist ein wahrer Schock für mich, bestätigt er ja indirekt auch Edward Fletchers Botschaft. Trotzdem mag ich kaum glauben, dass dieser Geist wirklich existiert. Solche Wesen gibt es eigentlich nur in alten Sagen und schlechten Schauerromanen. Dennoch bin ich ziemlich beunruhigt. Befindet sich tatsächlich eine fremde Macht in jener unscheinbaren Flasche?
  Ich breite die dritte Nachricht aus. Möglicherweise bringt sie Licht in die Angelegenheit ...


Ich bin Martha Wilder. Wie meine Schicksalsgefährten ereilte mich das Unglück, Bekanntschaft mit dem Flaschengeist zu schließen. Zumindest berichtet das mein Mann. Wie er mir soeben sagt, erzählt er es mir täglich von neuem, denn am nächsten Morgen weiß ich nicht, was am Vortag war. Ich finde mich nicht mehr zurecht, bin völlig hilflos. Da ich mich nicht daran erinnern kann, wie alles begann, wird nun mein Mann diesen Brief fortführen und Ihnen mitteilen, was geschehen ist.

Ihre Martha Wilder


Hier ist Frederic Wilder. Obgleich ich mich ungern schriftlich ausdrücke, erfordern es die Umstände, dass ich meine Scheu überwinde. Um nicht mit der Tür ins Haus zu fallen, werde ich chronologisch vorgehen. - In ihrer Jugend war meine Frau Martha sehr schön; deshalb litt sie unter dem Alterungsprozess entsetzlich. Als sie die vierzig überschritten hatte, nahm ihr Verhalten schließlich krankhafte Züge an. Sie fing an, jedes einzelne graue Haar und jedes noch so kleine Fältchen zu bekämpfen. Ich brauche wohl nicht zu erwähnen, dass ihr jedes Mittel recht war, um etwas an ihrem Äußeren zu verbessern. Sie ließ keine Verjüngungskur aus und legte sich sogar unters Messer. Freilich brachte all das auf lange Sicht wenig, doch Martha ergab sich nur widerwillig in ihr Schicksal und verließ immer seltener das Haus. Durch ihren Wahn von der ewigen Jugend war sie blind für wichtigere Dinge, und sie übersah dabei völlig, dass ihre Altersgenossinnen sie nach wie vor um ihre Schönheit glühend beneideten. So verrann die Zeit und die Jahre verstrichen eines nach dem anderen. - Manchmal liefen wir am Strand entlang, wenn es dunkelte, so auch an Marthas fünfzigstem Geburtstag. Dabei lasen wir diese Flasche auf. Die Flut spülte sie direkt vor die Füße meiner Frau. Ich wollte sie wegwerfen oder einfach liegen lassen, aber Martha bestand darauf, sie mitzunehmen. Zu Hause angelangt, öffneten wir das Gefäß und waren hocherfreut über die Post aus dem Meer. Was wir da erfuhren, bereitete uns allerdings Kopfzerbrechen. Bei mir überwogen letztendlich die Zweifel. Ich konnte mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass es außerhalb der Märchen- und Sagenwelt Geister gibt, die in Flaschen leben, Wünsche erfüllen und ungern geweckt werden. Meine Frau, die hoffnungslos schwärmerisch veranlagt ist, nahm das hingegen für bare Münze und schlug vor, es darauf ankommen zu lassen. Ich riet ihr ab, hatte dafür jedoch kein überzeugendes Argument. Außerdem war es ihr Geburtstag und Ablenkung tat ihr gut. Also warf Martha das Gefäß mit aller Wucht gegen die Wand, woraufhin das gasförmige Monstrum wie eine Rauchsäule aus der Flasche aufstieg. »Wer wagt es, meine Ruhe zu stören?!«, brüllte das Wesen mit tiefer Stimme, so dass ich erbebte. Meine Frau versuchte den Geist zu beschwichtigen. Mir wurde indessen sehr schnell klar, dass er nicht zum Scherzen aufgelegt war. Martha war dennoch wild entschlossen, ihm die Gewährung eines Wunsches abzuringen. Sie vollführte einen Bauchtanz und sang dazu, dass mir das Herz aufging. Anschließend rezitierte sie mit Inbrunst eine tragische Passage aus einem mir unbekannten Stück. Sie zeigte ihr ganzes akrobatisches Können, indem sie ein Rad schlug, Handstand, Spagat und Salto präsentierte. Der Geist war davon allerdings nicht angetan und gähnte gelangweilt. Er war ihrer überdrüssig, aber sie gab nicht auf. Ich hatte das Gefühl, er erfüllte ihr die Bitte, allein um ihre Gesellschaft nicht länger ertragen zu müssen. Von all den Turnübungen außer Atem geraten, stöhnte sie: »Ich wäre gerne jünger!« Dieser Satz wurde uns beiden zum Verhängnis! Meine Frau war außer sich vor Freude und gelobte, dass von nun an alles besser werde. Doch als ich sie am darauffolgenden Morgen auf den Vorfall ansprach, wusste sie anscheinend nichts mehr von der Begebenheit. Sie war sogar im Begriff, die Flasche samt Geist in den Mülleimer zu schmeißen, und nur mit Mühe gelang es mir, sie daran zu hindern. Als ich ihr von dem Wesen berichtete, lachte sie mich bloß aus. Was ich anfangs für eine ihrer Verrücktheiten hielt, stellte sich bald als bittere Wahrheit heraus - sie hatte alle Ereignisse des Vortags vergessen! Es sollte aber noch schlimmer kommen: Nach einem Jahr erinnerte sie sich nicht an unseren damals zweijährigen Enkel und nach zwanzig Jahren nicht einmal mehr an unsere inzwischen vierzigjährige Tochter. - Währenddessen sind fünfundzwanzig Jahre verflossen. Martha ist unfähig, den Alltag zu meistern, und begreift wohl selbst nicht, was mit ihr geschieht. In jeder Hinsicht verläuft ihre Entwicklung rückwärts. Da nützt es freilich wenig, dass sie mittlerweile wieder so jung und wunderschön ist wie seinerzeit, als wir uns kennenlernten. Für uns alle ist ihr Zustand sehr verwirrend. Ich bin zu dem verblüffenden Schluss gekommen, dass sie sich jeweils erst einen Tag in die Zukunft und dann zwei Tage zurück in die Vergangenheit bewegt. Dieser Zeitsprung erfolgt irgendwann zwischen einer Sekunde vor und Punkt zwölf Uhr nachts und vollzieht sich in einem für unsere Sinne nicht wahrnehmbaren Moment. Marthas Gedächtnis wird dabei Tag für Tag buchstäblich gelöscht. - Hier möchte ich meine Aufzeichnungen unterbrechen. Ich werde vielleicht in einigen Jahren mit dieser Schilderung fortfahren.

Ihr Frederic Wilder


Mein Name ist Anna Wilder. Ich bin Martha und Frederic Wilders Tochter. Mein Vater ist kurz nach obigem Bericht von uns gegangen. (Das Leben mit meiner Mutter war einfach zu hart für ihn.) Seit sechsundzwanzig Jahren ist er nun tot, und ich möchte stellvertretend für ihn dieses Schreiben beenden. - In den letzten Jahren lebte meine Mutter bei mir. Sie hatte sich zu einem Kind zurückgebildet und schließlich nach und nach Lesen und Schreiben, zum Schluss sogar das Laufen und Sitzen verlernt. Sie hätten sehen müssen, wie qualvoll Mum starb - ein Embryo ohne den schützenden Bauch seiner Mutter! Das kann ich nie und nimmer vergessen. Ich habe ihren Tod (sie verschied vor einem Jahr) bis heute nicht verarbeitet und verstehe nicht, wie dies passieren konnte. - Mein Vater war ein kluger und besonnener Mann. Auf seinem Sterbebett bat er mich darum, diese Nachricht zu vervollständigen. Ich werde sie jetzt dem Meer überlassen, in der Hoffnung, dass jene Flasche niemals wieder an Land gespült wird. Hören Sie meine Warnung, sehr geehrter Leser! Machen Sie keine Geschäfte mit dem Flaschengeist! Er bringt nur Unheil und Verderben.

Ihre Anna Wilder


  Mit zitternden Händen falte ich die letzte Botschaft zusammen, lasse sie vorsichtig in das Innere der Flasche gleiten und verschließe die Wohnung des Geistes mit dem Korken. Diese drei Berichte haben mich wirklich aufgewühlt. Um nichts in der Welt werde ich Kontakt mit jenem Ding aufnehmen, und vor allem will ich die Menschheit vor ihm schützen. Unten bei den Klippen ist eine kleine Höhle; darin werde ich das Gefäß verwahren. Damit erweise ich uns allen einen guten Dienst: Er hat seine Ruhe und wir sind in Zukunft sicher vor ihm.
  Die Sonne steht blutrot über dem Meer. Bald wird es dunkel - ich sollte mich beeilen. Der Sturm greift mich von der Seite an. Ich muss aufpassen, dass ich nicht falle. O weh! Kleine Steinchen haben sich aus dem Fels gelöst und beginnen zu rollen. Ich finde keinen Halt mehr, stolpere und stürze. Das Glas entschlüpft meinen Händen und kullert den Hügel hinab! Regungslos liege ich da und bete, dass der Pfropfen dem Geist den Weg versperrt.
  Klirrend hüpft die Flasche den holprigen Abhang hinunter. Der Verschluss springt heraus. Ich blicke auf die See hinaus - all mein Hoffen war vergebens! Was ich sehe, verschlägt mir schier den Atem. Vor Schreck bin ich wie gelähmt. Von der Meeresoberfläche bis unter das Rot des Abendhimmels erstreckt sich der Flaschengeist und herrscht mich verdrießlich an: »Ihr Menschen seid Plagegeister, wollt immer nur Wünsche erfüllt haben und raubt mir den Schlaf. Verschone mich mit deinen Künsten, Winzling! Sag mir einfach, was du willst, und es wird geschehen, aber lass mir fortan meinen Frieden! Welche Bitte also soll ich dir gewähren?«
  Ich kauere ängstlich auf dem Boden und versichere ihm mit tränenerstickter Stimme: »Ich wünsche mir nichts von dir!«
  »Das sollst du haben!«, lacht er höhnisch und verschwindet urplötzlich. Und mit ihm verschwindet alles: der Felsen, die Gräser, der Wald in der Ferne, das Meer mit seinem Rauschen, der Wind, ja selbst der Himmel und die Sonne. Kein Geräusch mehr, kein Geruch, kein Licht. Stille und Dunkelheit. Kein Boden unter den Füßen. Ich schwebe durch ein unbeschreibliches Nichts.
  Alles ist dahin. Was soll ich jetzt tun? Was soll ich bloß machen? Meine Hände greifen ins Leere. Ich bin das Einzige, was noch existiert. Ich muss diesen Geist um Gnade bitten - aber wo soll ich nach ihm suchen? Wie kann ich ihn finden, wenn ich nichts sehe? Was tut er gerade? Ist er wach oder schläft er?
  »Geist aus der Flasche, wo bist du?«, rufe ich in die Leere hinein.

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