Tabaka Derby Messer's Gesammelte Horrorgeschichten - Band II
Acht Gruselgeschichten & ein Gedicht       ©  2006  Heike Hilpert, Selbstverlag
 Titel
 Vorwort
 Inhalt
 Die Wege des Mr Nolan
 Der Kettenraucher
 Der Flaschengeist
 Der Zombie speist um Mitternacht
 Mr Howard im Paradies
 Die Botschaft
 Der geometrische Hund
 Kleine Plauderei
         Autoren nach Maß
         Kollision der Monster
         Die Heimsuchung
 Der Vampir
 Information zur Autorin
 Literaturhinweis
 Impressum
Autoren nach Maß

  Mitch Mitchell saß in einer leeren Wohnung auf gepackten Koffern. Traurig stierte er an die Zimmerdecke und ließ in Gedanken die Geschehnisse der letzten Jahre an sich vorüberziehen ...

  In dieser Stadt hatte alles angefangen. Sein Geburtshaus befand sich ganz in der Nähe, er hatte die Kindheit hier verbracht und unweit der vertrauten Heimat das verhasste Studium absolviert. Auch sein sagenhafter Aufstieg hatte sich an ebendiesem Ort vollzogen.
  Vor einer Woche noch hatte Mitch sich am Ziel seiner Wünsche gewähnt und jetzt schien alles aus zu sein. Bloß ein Umzug konnte ihn retten. Er musste weg, so weit weg wie nur irgend möglich, auswandern in ein fernes Land. Vielleicht war es ihm ja vergönnt, dort die Reste seiner ruhmreichen Vergangenheit wieder zusammenzufügen und eine zweite Karriere zu starten. Wie ein Phönix wollte er aus der Asche steigen und allen Leuten zeigen, dass er gut war, dass keiner es so verdiente wie er, ein gefeierter Star zu sein.
  Mitchell war einst ein hell leuchtender Stern am Autorenhimmel gewesen und seine Horrorromane waren heiß begehrt. Fans liefen ihm in Scharen hinterher, verfolgten ihn sogar auf der Straße, stets auf der Jagd nach einem Autogramm. Frauen, die ihn in Anbetracht seines faden Aussehens sonst kaum wahrgenommen hätten, lagen ihm zu Füßen und schworen ihm ewige Liebe und Treue, obwohl sie ihn nicht mal persönlich kannten. Klatschkolumnisten hatten ständig ein Auge auf ihn, belästigten ihn ohne Unterlass und kommentierten sein Treiben umgehend, war es auch noch so banal.
  Alles schien demnach in bester Ordnung zu sein - bis zu jenem Abend, als Mitchells Verleger Elliot Buchanan dem Star auf der jährlich stattfindenden Verlagsparty ein kleines Büschel seines blond gelockten Haars ausriss und triumphierend hochhielt. Obgleich Mitch sich damals unverwundbar fühlte, schwante ihm doch, dass dies nichts Gutes zu bedeuten hatte.
  Ein Jahr später schon war ein Newcomer im Begriff, ihm den Rang abzulaufen. Mitchell legte gerade eine Schaffenspause ein, als der Grünschnabel mit seinem Debütroman an die Öffentlichkeit trat. Buchanan, der greise Verleger, förderte seinen neuen Schützling mit aller Macht und verhalf ihm im Handumdrehen zu ungeahnter Popularität. Mitch aber beäugte den attraktiven Kollegen misstrauisch und ärgerte sich besonders über dessen gute Arbeit, die sich durchaus mit seiner eigenen messen konnte.
  Die Leser strömten freilich sofort zu dem Konkurrenten, der plötzlich in aller Munde war, während Mitch langsam in Vergessenheit geriet. Der wusste natürlich, dass es an der Zeit war, sich beim Publikum zurückzumelden. So saß er tagaus, tagein und Nacht für Nacht bei starkem Kaffee und giftigen Zigaretten vor seiner Schreibmaschine, starrte lustlos auf die Tastatur und tippte frustriert einige Zeilen, die er jedoch gleich im Papierkorb verschwinden ließ. Es wollte ihm einfach nichts gelingen - er war ausgebrannt.
  Einige Monate danach betrat ein weiterer Schriftsteller die große, blutrünstige Bühne der Horrorliteratur. Dieser machte ebenfalls in der Szene von sich reden, zog die Leser in seinen Bann und leistete im wahrsten Sinne des Wortes »phantastische« Arbeit. Wieder rühmte sich Verleger Elliot Buchanan voller Stolz, sein Gönner und Entdecker zu sein, und das eisgraue Haar des geschäftstüchtigen kleinen Mannes blitzte. Mitch fragte sich indes, wo Buchanan all die talentierten Leute auftrieb.
  Kurz gesagt, drei Jahre später war der Markt gesättigt und die Buchläden überschwemmt mit den mehr oder weniger guten Werken der vielen Horrorautoren.
  Mitch, der nun endlich seine Krise überwunden hatte und ein Comeback starten wollte, biss daher bei seinem Verleger auf Granit. Aus Buchanans Zügen sprach aufrichtiges Bedauern, als er sein Manuskript ablehnte. Der Stoff sei zwar gut, Horror jedoch nicht mehr in Mode, weil man den Lesern in der letzten Zeit zu viel davon vorgesetzt habe. Der Alte schickte Mitchell weg und lud ihn als Entschädigung zur alljährlichen Verlagsparty ein, gleichsam als wäre das ein angemessener Ersatz für die Veröffentlichung seines neuen Romans.
  Mitch empfand dies als blanken Hohn und nahm sich vor, der Feier aus Protest fernzubleiben, aber wie es den Künstlern eigen ist, überlegte er es sich schließlich im letzten Moment anders und ging doch. Er holte den feinsten schwarzen Smoking aus seinem Kleiderschrank, polierte die teuersten Lackschuhe, die er besaß, und brachte mit der Fingerfertigkeit eines Meisterfriseurs seine goldenen Locken in Form.
  Der Mann im Spiegel wirkte dynamisch und erfolgsverwöhnt wie eh und je. Sein Gang war federnd, der Blick aus den stahlblauen Augen kalt und fest, und das spitze, flache Kinn gab seinem Gesicht einen gleichgültigen, blasierten Ausdruck. Die hochmütige Miene des Ex-Stars wahrte den Schein gekonnt, und keiner der anwesenden Gäste würde erkennen, wie es wirklich mit ihm aussah. Als Mitch die Tür hinter sich schloss, ließ er den von Selbstzweifeln und Zukunftsängsten geplagten Teil seiner Persönlichkeit zurück.

* * *

  Auf der Party musste Mitch leider feststellen, dass sich in den verflossenen drei Jahren eine Menge verändert hatte. Es kränkte ihn ungemein, dass er nun nicht mehr im Mittelpunkt stand. Stattdessen interessierten sich alle Anwesenden nur mehr für die Neulinge in der Szene. Insgesamt gab es inzwischen acht Autoren, die den Markt beherrschten dank ihrer passablen Werke und der raffinierten Werbestrategien ihres gemeinsamen Verlegers Elliot Buchanan. Dies schmerzte Mitchell zutiefst, denn er betrachtete sich als Begründer des modernen Horrorromans und Urheber der damit verbundenen Begeisterung in der Leserschaft. Das hatte man offenbar völlig vergessen! Unverschämt, dass man jetzt denjenigen huldigte, die in seinem Fahrwasser gesegelt waren und während seiner Schaffenskrise den ihm allein gebührenden Platz eingenommen hatten!
  Mitchell drückte sich verärgert am Buffet herum und beobachtete argwöhnisch seine Gegenspieler. Er schlürfte Kirschsaft, sein Lieblingsgetränk, und genoss Tintenfischsuppe, seine Leibspeise. Einer der umschwärmten Autoren gesellte sich zu ihm und holte sich ebenfalls Kirschsaft und Tintenfischsuppe, was Mitch sehr verwunderte, denn den meisten Leuten dreht sich schon beim bloßen Gedanken an diese schauderhafte Zusammenstellung der Magen um. Darüber hinaus gab es weitere Gemeinsamkeiten zwischen den beiden Kollegen: Der Rivale trug einen ähnlich geschnittenen schwarzen Smoking, obwohl das zurzeit gar nicht modern war, und als sie ein paar Worte wechselten, bemerkte Mitchell am Sarkasmus des anderen, dass sie auf der gleichen Wellenlänge lagen.
  »Seltsam - solch eine Vertrautheit zwischen zwei völlig Fremden!«, dachte er. Eine dunkle, noch unbestimmte Ahnung kroch in ihm hoch und manifestierte sich äußerlich in einem Stirnrunzeln.
  »Entschuldigen Sie!«, unterbrach eine bejahrte Frau mit starker Brille und grau schimmerndem Haar jäh seine Überlegungen. »Kennen wir uns nicht?«
  »Ich bin Mitch Mitchell«, stellte er sich vor.
  »Ah, Mr Mitchell - der berühmte Horrorautor!«, freute sich die Partybesucherin. »Wann gibt es denn wieder etwas Neues von Ihnen?«
  »Da werden Sie wahrscheinlich noch eine ganze Weile warten müssen«, enttäuschte er den anscheinend letzten ihm verbliebenen Fan.
  »Das ist schade!«, bemerkte die ältere Dame. »Ich mochte Ihre Bücher immer sehr.«
  Als sich die Leserin entfernte, war Mitch zum Heulen zumute. Die Tatsache, dass sich selbst seine treuesten Anhänger kaum an ihn erinnerten, war ein unwiderlegbares Indiz für seinen tiefen und unaufhaltsamen Fall. -
  Es dauerte nicht lange, bis der nächste Emporkömmling ans Buffet trat. Auch er trug einen altmodisch wirkenden Smoking und griff ohne Zögern zu Kirschsaft und Tintenfischsuppe. Misstrauisch musterte Mitchell daraufhin jeden seiner Konkurrenten, und je genauer er sie unter die Lupe nahm, desto mehr Ähnlichkeiten wiesen sie auf. Alle aßen sie seine Leibspeisen und hatten eine Vorliebe für diese Anzüge. Ihre Statur glich seiner eigenen. Selbst die Gesten und seinen unverwechselbaren Humor hatten sie ihm gestohlen. Kein Wunder, dass das Publikum ihn nicht vermisste, denn jetzt hatte es acht Kopien von ihm! Irgendetwas war hier faul.
  Als Mitch nun den berühmt-berüchtigten Facharzt für plastische Chirurgie Reginald Biggs, dessen Busenfreund, den ebenso zwielichtigen Gentechnik-Wissenschaftler Samuel Hudson, und den umstrittenen Wachstumsbiologen Rupert Burton unter den Anwesenden sichtete, fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. Der Albtraum vom optisch veränderten menschlichen Klon war dank skrupelloser Geschäftemacher bereits Wirklichkeit geworden. Endlich ergab auch der Angriff auf seinen Schopf einen Sinn!
  Innerlich rasend vor Wut, äußerlich kühl und gefasst, verfolgte Mitchell mit der Gründlichkeit eines Detektivs seine Widersacher und ging auf Spurensuche. Er entwendete Bestecke mit Fingerabdrücken, sammelte Haare ein, ließ ein kleines Glas mit Lippenabdruck in seinem Jackett verschwinden und schreckte nicht einmal davor zurück, dem letzten Opfer des Beutezugs mit seinem scharfkantigen Brillantring in den Finger zu ritzen, um an Blut zu gelangen. Danach verließ er heimlich wie ein Taschendieb die Feier.

* * *

  Am darauffolgenden Tag verstreute Mitch die Beweisstücke in seinem Apartment. Dann löste er Feueralarm aus. Als er sicher war, dass alle anderen das Gebäude verlassen hatten, trat er seine eigene Wohnungstür ein und versteckte sich im Kleiderschrank. Nachdem die Feuerwehr das Haus durchsucht und festgestellt hatte, dass es sich hier um falschen Alarm handelte, kroch er aus seinem Versteck. Einige Stunden später meldete er auf der Polizeiwache einen Einbruch während seiner angeblichen Abwesenheit.
  Die Ordnungshüter durchforschten Mitchells Wohnung nach Spuren der Täter - und sie wurden fündig. Drei Tage darauf bestätigte der für den Fall zuständige Polizeiinspektor allerdings, dass jene Fingerabdrücke usw. ausschließlich von Mitchell selbst stammten. Der erstattete formell Anzeige gegen unbekannt wegen Sachbeschädigung und Hausfriedensbruch.
  Die schlimmste Befürchtung hatte sich also bewahrheitet. Mitch war fassungslos und wollte das nicht einfach so auf sich beruhen lassen. Um seiner Entrüstung Ausdruck zu verleihen, stellte er Buchanan zur Rede. Die glasigen grauen Augen des Verlegers funkelten höhnisch, als er von seinem früheren Günstling Beweise forderte. Da Mitchell sich diese jedoch illegal beschafft hatte, zog er natürlich den Kürzeren. Der ertappte Elliot Buchanan jagte den Autor aus dem Hause mit der Bemerkung, er solle sich ja nie wieder blicken lassen.

  Nach jenem schrecklichen Erlebnis hatte Mitchell beschlossen, schleunigst auszuwandern. Jetzt saß er da auf seinen Koffern und starrte die Wände an. Ohne wirklich zu begreifen, wie es so weit kommen konnte, stand er auf, schnappte die Gepäckstücke und verließ seine Wohnung und mit ihr die geliebte Heimat. Er kehrte der Vergangenheit und der Gegenwart den Rücken auf dem Weg in eine ungewisse Zukunft in einem fernen, unbekannten Land.

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