Mitchell fand im Nachbarland eine neue Heimat und zog sich, frustriert und von der Enttäuschung verbittert, aus dem Literaturgeschäft völlig und endgültig zurück. Er war des Hoffens auf bessere Zeiten müde geworden, hatte Angst, abermals auf die Nase zu fallen und gedemütigt zu werden. So führte er nun ein beschauliches, doch eintöniges Dasein ohne Höhepunkte und Krisen - jahraus, jahrein im selben angenehmen Trott der gepflegten Langeweile.
Sein Leben als Schriftsteller mutete ihn im Nachhinein hohl und sinnlos an. Es gehörte in eine andere Zeit, die weit zurücklag, in eine Welt, die er für immer hinter sich gelassen hatte. Nie wieder wollte er daran anknüpfen, nie wieder einen Fuß über die Schwelle eines Verlagshauses oder einer Buchhandlung setzen. Diese klägliche, unbedeutende Szene mit ihren ichsüchtigen, dünkelhaften Ikonen musste künftig ohne ihn auskommen. Er, der alle Höhen und Tiefen einer Autorenkarriere durchlaufen hatte, blickte nur noch ungern zurück, und wenn, dann mit einem spöttischen, selbstzufriedenen Lächeln.
Mitchell führte jetzt ein gänzlich anderes Leben. Sein Bewusstsein für die Natur und die Dinge, die ihn umgaben, war aufs Äußerste geschärft. Er sah Blumen blühen und Blätter wachsen, bestaunte die prächtige Laubfärbung im Herbst und betrachtete ehrfürchtig den funkelnden Sternenhimmel, lauschte dem Rauschen der Baumwipfel, dem Heulen des Windes und dem fröhlichen Plätschern des kleinen Baches neben seinem Haus. Sogar der Wetterbericht war für ihn von größter Wichtigkeit. Daher muss es uns nicht wundern, dass die für diese Nacht herausgegebene Sturmwarnung bei ihm auf Interesse stieß - bot das bevorstehende Unwetter doch eine willkommene Abwechslung.
Außerdem glaubten selbst ernannte Sterndeuter seit Wochen eine Unheil verkündende Planetenkonstellation am Himmel zu erkennen, die bald einen schlechten Einfluss auf das Schicksal der Menschen ausüben könnte und deshalb wahrlich nichts Gutes verhieß. Mitchell, der ja aus eigener Erfahrung wusste, dass man übernatürliche Kräfte nicht unterschätzen darf, nahm die Prophezeiungen der Astrologen ernst und harrte gespannt aus mit einer gewissen inneren Unruhe, die ihn belastete und ihm auf den Magen schlug.
Der frostige Wintertag neigte sich und die Schatten wuchsen bedrohlich, als Mitchell von seinem Spaziergang zurückkam. Es war klirrend kalt und der Wind peitschte ihm gehörig an die geröteten Ohren, während er durch den knirschenden Schnee schlurfte. Die kahlen Bäume auf seinem Anwesen standen starr wie vereiste, sorgfältig aufgestellte Mumien in frischen Leichentüchern. Bis auf den böigen, wild und wilder fauchenden Wind schien alles steif und tot.
Durchgefroren und missmutig rettete sich Mitchell in sein Haus, wo die lodernden Flammen im Kamin behagliche Wärme und ein anheimelndes Licht verbreiteten. In Erwartung einer besonderen Nacht schickte er die Bedienstete heim und streckte sich dann wohlig auf dem Liegesofa aus.
* * *
Der Glockenschlag der Turmuhr, der vom Marktplatz herüberschallte, riss Mitchell um Mitternacht aus dem Schlaf. Er lag noch immer auf seinem Sofa und wollte endlich zu Bett gehen, denn das Kaminfeuer war inzwischen erloschen und der Raum merklich kühler geworden. Da klopfte es am Fenster. Er stand auf und blickte durch die Scheiben, konnte jedoch nichts erkennen. Selbst die Position des Mondes war nur schwer auszumachen, weil sein Licht kaum durch die dichten Schichtwolken gelangte, die den Himmel mittlerweile verhüllten. Als Mitch sich wieder entfernte, pochte es abermals.
»Wer ist da?«, rief er neugierig, erhielt allerdings keine Antwort.
Er lief zurück zum Fenster und öffnete den rechten Flügel, woraufhin sofort eisige Nachtluft in das Zimmer drang. Der Sturm wütete heftiger denn je und zwickte Mitchell in Nasenspitze und Ohren. Er drehte den Kopf ruckartig erst nach links, dann nach rechts, um sich zu vergewissern, dass niemand da war. Dabei schien es ihm, als ob gerade etwas an ihm vorbeiflattere. Kopfschüttelnd schloss er das Fenster. Wer immer sich dort draußen befand, wollte sicher nicht zu ihm, denn mit Besuchern war zu vorgerückter Stunde und bei diesem Wetter ohnehin nicht zu rechnen. Doch als er sich umsah, wurde er eines Besseren belehrt. Tatsächlich hockte auf dem Kaminsims ein großer schwarzer Vogel, der sich bei näherer Betrachtung als Rabe entpuppte.
»Dir ist wohl kalt?«, redete Mitchell das Tier an, das unbeirrt sein glänzendes Gefieder zurechtzupfte.
Eigentlich mochte er keine Vögel, Raben schon gar nicht. Sie waren bloß früher dann und wann in seinen Gruselgeschichten als Unglücksboten aufgetaucht. (Ein Gedicht des Meisters der Horrorliteratur, Edgar Allan Poe, hatte ihn dazu inspiriert.) Der Ex-Autor war jetzt wirklich zu müde, um noch auf Vogelfang zu gehen, und es sah auch nicht danach aus, als ob sich der ungebetene Gast so leicht verscheuchen ließe.
»Meinetwegen kannst du die Nacht hier verbringen«, sprach er den Raben an, »aber morgen jage ich dich fort, so wahr ich Mitch Mitchell heiße.«
Just in diesem Moment schellte es an der Tür. Mitch öffnete.
»Guten Abend, Mr Mitchell!«, grüßte höflich ein distinguierter Herr im schwarzen Cape.
»Kennen wir uns, Mr ...?«, stammelte der ehemalige Autor.
»Nun, ich war bereits des Öfteren in Ihrem Auftrag unterwegs«, stellte der Fremde klar. »Es wird Zeit, dass wir uns einmal persönlich begegnen.«
»Kommen Sie nur herein!«, lud Mitch den dünnen Mann im Cape freundlich ein. Er war ihm sonderbar vertraut.
Das gelbliche Licht im Flur schmeichelte dem blassen Teint des Besuchers ungemein. Trotzdem hatte der seltsame Herr etwas sehr Beunruhigendes an sich. Sein stechender Blick benebelte Mitchell; daher vermied er es, seinem Gast in die Augen zu schauen. Er bot Speisen und Getränke an, doch der Fremde lehnte dankend ab.
Bevor sich aber ein Gespräch entwickeln konnte, bimmelte es nochmals. Draußen stand, bekleidet mit Hut und Radmantel, ein vornehmer Herr, der Einlass begehrte. Ohne den anderen Besucher zu beachten, setzte sich der Neuankömmling in einen etwas abseits stehenden Sessel und zündete sich eine Pfeife an.
Wieder läutete es und wieder öffnete Mitchell, woraufhin ein großer, kräftiger Mann in die Diele trottete, dessen Gesicht, Hals und Hände durch Narben entstellt waren.
Kaum hatte Mitch die Tür hinter sich geschlossen, schrillte die Klingel erneut. Dem Autor erstarrte das Blut in den Adern, als er des vierten Gastes gewahr wurde. Dieser war schon halb verrottet, seine Haut und seine Kleidung blätterten ab und er verbreitete einen faulen Geruch. Mitchell ließ das Monster passieren, wobei er ungläubig die Hand vor die Augen hielt.
War das vielleicht ein Albtraum? Was wollten bloß all die Ungeheuer von ihm? Und wer würde sich wohl noch zu ihnen gesellen?
Als es ein weiteres Mal klingelte, rechnete er mit dem Schlimmsten. In der Tat konnte es nicht ärger kommen, denn der nächste Besucher war von Kopf bis Fuß mit Leichentüchern umwickelt. Die folgenden Gäste waren halb transparente Geister. Sie spazierten gleich durch die Mauerritzen in das Haus. Dann sprang ein Wolf durch das Fensterglas, das hierbei klirrend zersplitterte. Und ein riesiger Affe trat einfach die Tür ein.
Mitchell stand starr vor Schreck im Flur und zitterte vor Kälte, denn der eisige Wind drang nun durch die zertrümmerte Tür und das offene Fenster herein und verursachte Zugluft. Da half es wenig, dass der Herr mit der Pfeife das Kaminfeuer wieder angefacht hatte.
Plötzlich vernahm Mitchell ein lautes, eigenartig donnerndes Motorengeräusch. Bald darauf erhellte ein grelles, blau-rot-gelbes Licht seinen Vorgarten, und wenig später landete dort unter ohrenbetäubendem Lärm ein unbekanntes Flugobjekt, dem drei kleine graue Männlein entstiegen, die auf sein Haus zusteuerten.
»Wer sind Sie?«, rief der ehemalige Autor entsetzt, der Verzweiflung nahe. »Was wollen Sie von mir?«
»Ich bin Sherlock Holmes«, stellte sich der vornehme Herr mit der Pfeife vor.
»Mein Name ist Graf Dracula«, klärte der dürre Mann im Cape seinen unfreiwilligen Gastgeber auf.
»Frankensteins Schöpfung«, murmelte kaum verständlich der zusammengeflickte Tollpatsch.
»Wir sind außerirdische Wesen«, erklangen die metallischen Stimmen der Männlein aus dem Raumschiff im Chor.
»Sherlock Holmes?«, wiederholte Mitchell zweifelnd. »Graf Dracula? Frankensteins Kreatur? Außerirdische?« Der Ex-Autor weigerte sich zu glauben, was eigentlich ganz offensichtlich war. »Sie alle sind Romanfiguren!«, schrie der geschockte Schriftsteller. »Sie sind nicht real! Nicht aus Fleisch und Blut! Nur in der Phantasie von Horrorautoren entstanden!«
Mitchell lief aufgewühlt in der Diele umher und stöhnte fortwährend: »Das ist nicht wahr! Nein, nein! Niemand ist hier. Ich bin ganz allein. Es ist bloß ein Traum.«
Verwirrt ging er auf und ab und redete sich ein, dass er die ungebetenen Gäste vertreiben konnte, indem er einfach ihre Anwesenheit leugnete. Doch schon die Tatsache, dass Fenster und Tür zerstört waren, bewies untrüglich, dass wirklich jemand in sein Haus eingedrungen war, dem es offensichtlich an guten Manieren mangelte.
»Wir sind gekommen, um Sie zur Rechenschaft zu ziehen«, begann der Herr im Radmantel, der sich für Sherlock Holmes ausgab und ebenso leidenschaftlich Pfeife schmauchte wie sein Alter Ego aus Sir Arthur Conan Doyles Detektivgeschichten.
»Was habe ich denn Unrechtes getan?«, jammerte Mitchell erbärmlich.
»Sie haben uns benutzt!«, entgegnete Graf Dracula mit schneidender Stimme und gereiztem Blick.
»Benutzt?« Mitch setzte eine Unschuldsmiene auf. Langsam aber dämmerte ihm, womit er sich den Zorn der illustren Runde zugezogen hatte.
»Sie riefen uns immer wieder zu sich«, lispelten die dünnen Stimmen der Gespenster.
»Ich musste als Monster für eines Ihrer schlechtesten Machwerke herhalten«, brummte verärgert die wandelnde Mumie.
»Nun ja«, räumte Mitch ein, »ich habe über jeden von Ihnen irgendwann eine Story geschrieben.«
Dem Autor wurde klar, weshalb sie ihn auf so unhöfliche Weise heimsuchten: Sie nahmen ihm übel, dass er Erzählungen verfasst hatte, bei denen sie eine nicht unbedeutende Rolle spielten.
»Mein Leidensgenosse Graf Dracula war für Sie ein willfähriges Opfer«, erläuterte Sherlock Holmes. »Keine Nacht hatte er seine wohlverdiente Totenruhe. Ständig schickten Sie ihn auf die Jagd nach Menschenblut. Dank seiner Hilfe schnellten Ihre Verkaufszahlen in die Höhe. Sie jedoch quälten ihn weiter und ließen ihn immer grausamere Tode sterben. Das war sehr unfair!«, warf der fleischgewordene Meisterdetektiv Mitchell vor. »Freund Rabe zwangen Sie zu flattern, bis seine Flügel erlahmten. Gevatter Werwolf sollte heulen, bis er ganz heiser wurde. King Kong veranlassten Sie, sich so oft an die Brust zu klopfen, dass sein Körper heute Dellen hat. Der bemitleidenswerten Frankensteinschen Kreatur schmerzen vom Herumtraben bereits sämtliche Narben. Die Mumie verliert langsam ihre Tücher und die Gespenster sind des Spukens müde. Kurzum, wir sind Ihnen nicht länger ergeben«, brachte Holmes die Sache auf den Punkt. »Wir stehen Ihnen fürderhin nicht mehr zu Diensten.«
»Ich möchte in meinem Grab liegen bleiben«, sprach der halb verfaulte Zombie.
»Ich will in meinem Sarg schlafen«, zischte Graf Dracula erbost.
»Wir werden uns verflüchtigen«, flüsterten die Geister.
»Wir würden gerne noch weiterfliegen«, meinten bedauernd die Außerirdischen, »doch unser Raumschiff ist altersschwach.«
Mitchell war dem Wahnsinn nahe. Er versuchte, einen vernünftigen Gedanken zu fassen. »Womit habe ich Sie verärgert, Mr Holmes?«, wandte er sich schließlich an den Anführer der meuternden Schar.
»Mich?« Holmes zog höhnisch grinsend an seiner geliebten Pfeife und blies bläuliche Ringe in die Luft. »Ich preise Ihren Humor, Mr Mitchell! Ich möchte Tabak schmauchen und Geige spielen, mit der Droschke fahren und Rätsel lösen. Sie aber zerren mich in dieses unselige ausgehende zwanzigste Jahrhundert und langweilen mich mit Ihren leicht durchschaubaren Fällen. Zu allem Übel verbieten Sie mir aus gesundheitlichen Gründen das Rauchen, nur um Ihre Leser davon abzuhalten, es mir gleichzutun. Ich bin zutiefst verärgert und nicht mehr willens, Ihre schlechten Romane aufzuwerten. Sie müssen sich von jetzt an eigene Figuren ausdenken!«, forderte er barsch.
»Ich glaube, Sie sind nicht ganz auf dem neuesten Stand«, gab Mitch sich nun betont leutselig. »Ich habe mich längst aus diesem Geschäft zurückgezogen und beabsichtige nicht, irgendwann wieder einzusteigen. Ich verspreche Ihnen, ich werde Sie nie mehr belästigen, meine Herren!«
Darauf reagierten alle Anwesenden erleichtert. Der Rabe flog fröhlich durch das Fenster und der Werwolf preschte davon, wobei sich sein Heulen in der Nacht verlor. King Kong stapfte hinaus und Frankensteins Monster trabte hinterher. Die Mumie taumelte den Weg zum Fluss hinunter. Auch Sherlock Holmes schritt wie befreit aus dem Haus, während sich die Geister nach und nach in Luft auflösten.
Es hätte eine friedliche Nacht werden können, wären nicht der Vampir und der Zombie noch hungrig gewesen. So nahmen die beiden ungleichen Wesen der Finsternis einen letzten Imbiss ein. Die Reste der blutigen Mahlzeit sammelten die Außerirdischen für Forschungszwecke und rüsteten sich zur Heimreise in ihrem klapprigen Flugvehikel.
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