Mitch Mitchell fühlte sich fabelhaft. Der verstoßene Autor hatte mit seiner neuen Heimat die richtige Wahl getroffen. Man hieß ihn willkommen in dem fremden Land, war freundlich zu ihm, und niemand machte Anstalten, ihn zu kopieren. Schnell fand er eine Kleinstadt namens Fantasy, die ihm gefiel. Dort mietete er ein nettes Häuschen und knüpfte ein paar Kontakte. Er hatte alles, was er brauchte. Schließlich lebte es sich ja auch jetzt noch gut von den einstigen Erfolgen.
Mittlerweile hatte er die Schriftstellerei an den Nagel gehängt und beschränkte sich nunmehr ganz auf die Rolle des stillen Beobachters. Dass andere inzwischen den Ruhm ernteten und sich der Gunst des Publikums erfreuten, während sich an seinen Namen kaum jemand erinnerte, war ihm einerlei - zumindest redete er sich das ein. Seine Tage waren lang und durch Müßiggang geprägt. In seinem Leben herrschte Frieden - bis sie auftauchte!
Beverly Grant, eine gefeierte Horrorautorin, hatte sich in Mitchs Nachbarschaft niedergelassen, was er als offenkundige Provokation auffasste. Wie konnte diese unmögliche Person es bloß wagen, sich in seiner unmittelbaren Nähe breitzumachen! Und wenn sie sich zufällig auf der Straße begegneten, besser gesagt, aneinander vorbeiliefen, dann würdigte sie ihn keines Blickes, tat so, als wüsste sie nicht, wer er war.
Nein, er kannte sie nicht, doch er hasste sie abgrundtief. Sie war unscheinbar und mickrig wie ein dürres Pflänzchen, das einzugehen drohte. Mitchell aber mochte keine hässlichen Frauen, denn sie führten ihm, der stets nach Perfektion strebte, auf ernüchternde Weise die Unvollkommenheit der Welt vor Augen. Nur widerwillig las er daher Beverlys Bücher und sah sich Talkshows an, in denen sie auftrat. Er musste zugeben, dass sie vor Geist und Witz sprühte, und das wurmte ihn. Dass sie sich in die Horrorszene eingeschlichen hatte, empfand er als bodenlose Unverschämtheit. (Frauen sollten Liebesgeschichten und Romantik-Abenteuer schreiben, Beziehungskrimis oder Mystery-Thriller. Von harten Sachen sollten sie jedoch ihre zarten Finger lassen. - Das meinte jedenfalls Mitch Mitchell.) Kein Wunder also, dass ihm Beverly Grant, die so gar nicht seinen Vorstellungen entsprach und sich trotzdem in ihrem Erfolg sonnte, ein Dorn im Auge war.
Der Unmut über die Präsenz jener schrecklichen Frau brannte in ihm wie ein Fieber. Sie war oben - er war unten. Wie hatte er nur so tief fallen können! Beverly Grants Anwesenheit wirbelte die Erinnerungen wie eine Staubwolke auf. Da war die Krise, die folgende Demütigung, die gestohlene Einzigartigkeit, die erzwungene Auswanderung und die Erkenntnis, dass es seit Jahren mit ihm bergab ging und er das letzte Kapitel seines glanzlosen Abschieds vollendet hatte, als er das Schreiben aufgab. Ihm wurde klar, dass er sich zu früh zurückgezogen hatte. Er war abgereist, einen Koffer voll unerledigter Dinge als Handgepäck. Auf diese Art durfte er nicht abtreten.
So machte Mitchell seine Entscheidung rückgängig und griff wieder zu Papier und Stift. Er wollte ein Comeback starten, wollte es noch einmal wissen. Bereits seit Monaten schleppte er die verschiedensten Ideen mit sich herum, doch es fiel ihm schwer, sie zu ordnen. Die Worte purzelten aus seiner Feder. Unbeholfen reihten sich die ersten Sätze aneinander wie die launischen Abschnitte eines holprigen Weges, dessen Ziel eher ungewiss ist. Aber Mitch gab nicht auf, stolperte tapfer über die beschwerlichen Passagen, und schließlich rieselten die Formulierungen locker und leicht wie ein gemütlich spritzender Nieselregen hernieder - ganz so wie in alten Zeiten.
* * *
Einige Monate später brachte ein angesehener Verlag Mitchells jüngstes Werk auf den Markt. Trotz massiver Werbung entwickelte sich das Buch allerdings zum Ladenhüter, was Mitch beinahe verzweifeln ließ. So hatte er sich seine Rückkehr freilich nicht vorgestellt. Seine Enttäuschung kannte keine Grenzen, zumal ihn Beverly Grant mit ihrem neuen Roman mühelos übertrumpfte und in einer Talkshow obendrein bemerkte, er sei für sie keine ernst zu nehmende Konkurrenz. Mitch mochte vor Scham in den Boden versinken, hatte er ihr doch kürzlich im Rahmen einer Buchpräsentation öffentlich den Kampf angesagt.
Einsam und gedemütigt schritt er durch die Straßen der kleinen Stadt und dachte über einen Ausweg aus dieser peinlichen Situation nach. Es schien ihm am vernünftigsten, ein weiteres Buch zu schreiben und alles daranzusetzen, Beverly Grant zu überflügeln. Was er dafür brauchte, war nur Papier und eine geniale Idee. Also hielt er vor einem Schreibwarenladen inne, um sich das Erstere schon mal zu besorgen.
Mitchell hamsterte eine Menge Stifte und Büroartikel. Dann machte er sich auf den Heimweg. Als er bereits drei Viertel der Strecke zurückgelegt hatte, stellte er aber fest, dass er das Wichtigste - das Papier - vergessen hatte! Ärgerlich über seine Zerstreutheit, lief der Autor nach Hause, wo er vor seiner Eingangstür unverhofft auf einen älteren Herrn traf, der sogleich auf ihn zusteuerte und sich anschickte, ihm etwas zu überreichen.
»Ich nehme keine Ware von einem Vertreter!«, herrschte Mitchell den unerwünschten Besucher an. »Was auch immer Sie in Ihren Koffern haben, nehmen Sie es wieder mit und verschwinden Sie!«, forderte er schroff.
»Ich bin kein Vertreter, ich bin Quentin«, erklärte der Unbekannte höflich.
»Quentin - hm! - und wie noch?«, fragte Mitchell etwas weniger barsch, denn er war an allerlei oberflächlichen Dingen interessiert, wie beispielsweise an Namen, die er manchmal später in seinen Werken verwendete.
»Man nennt mich Quentin«, antwortete der vermeintliche Vertreter gleichmütig.
»Hm!«, brummte Mitchell unzufrieden. »Ist das nun Ihr Vor- oder Ihr Nachname oder ist es vielleicht ein Pseudonym?«, bohrte der Schriftsteller weiter, belustigt über den kleinen Scherz am Rande. Ein Pseudonym für einen Vertreter! Was für eine ulkige Vorstellung, dass man heutzutage schon unter einem Künstlernamen hausierte!
»Quentin ist nicht mein Name. Ich bin Quentin!«, entgegnete der Fremde eigensinnig. »Ich war nie etwas anderes und werde nie etwas anderes sein.«
Mitchell runzelte die Stirn. Er sollte es wohl lieber dabei bewenden lassen, denn bei Quentin schien eine Schraube locker zu sein. Der Autor betrachtete den offenbar verwirrten Mann eingehend. Er mochte mittleren Alters sein, wirkte gepflegt und herablassend, so als sei ihm sein Geschäft im Grunde egal, so als habe er nicht einen Job zu erledigen, sondern eine Mission zu erfüllen. Mitchell fand Quentin unheimlich und ängstigte sich ein wenig vor ihm. Am meisten aber fürchtete er, dass er den merkwürdigen Fremden nicht mehr loswürde. Deshalb bemühte er sich, die Sache ein bisschen abzukürzen.
»Was wollen Sie mir verkaufen?«, erkundigte er sich desinteressiert.
»Ich verkaufe nichts!« Quentin schüttelte empört den Kopf, als ob Mitchell ihn zutiefst gekränkt hätte. »Ich verschenke Dinge!«, stellte der Beleidigte richtig.
Der Autor war verdutzt. »Und was verschenken Sie?«, fragte er.
»Ich gebe jedem, was er gerade braucht.«
Mitchell lachte hell auf. »Was brauche ich denn?«, testete er den selbst ernannten Wohltäter.
»Sie brauchen Papier«, antwortete derselbe und versetzte den Künstler damit in Erstaunen. »Hier sind dreizehn Koffer voll Schreibpapier. Nehmen Sie sie!«, bot Quentin an. »Das wird Ihre Karriere wieder beleben.« Mit diesen orakelnden Worten entfernte er sich und ließ den verwunderten Autor mit dem Präsent zurück.
Mitchell schaute seinem seltsamen Gönner ebenso misstrauisch wie beeindruckt hinterher und rätselte über dessen Motive. Welche Bedeutung hatte jener Auftritt? Wer war Quentin wirklich? Würde er ihm je wieder begegnen?
Während er über den Fremden nachdachte, brachte er vorsorglich all die Aktenkoffer in sein Haus. Vielleicht forderte Quentin das Papier ja eines Tages zurück. Auf keinen Fall sollte es auf der Straße liegen bleiben. Dann hängte Mitch freudig sein Jackett an den Garderobenständer und rieb sich erwartungsvoll die Hände. Ungestüm öffnete er einen der Koffer und holte behutsam das erste Blatt hervor. Es war makellos und blütenweiß, hatte gerade die richtige Stärke und eine seidige Oberfläche. Ihm juckte es förmlich in den Fingern. So setzte er sich nieder, nahm einen Stift und begann zu schreiben.
* * *
Die folgenden Wochen verliefen für Mitchell sehr produktiv. Zwar fehlte ihm die zündende Idee für ein echtes Meisterwerk, doch war er - ganz wie früher - dreist genug, sich bei seinen verhassten Kollegen zu bedienen. Da zurzeit Geschichten mit Monstern angesagt waren, beschloss er, nun auch ein Ungeheuer in die Phantasiewelt zu setzen. So spielte der Titelheld seiner jüngsten Erzählung »Das Asphalt-Monster« eine tragende beziehungsweise knabbernde Rolle, denn er ernährte sich vorzugsweise vom Straßenbelag.
Mitchell stellte das Werk in wenigen Monaten fertig und fand sogleich einen willigen Verleger, der zum einen seinen skurrilen Humor zu schätzen wusste und sich zum anderen glücklicherweise noch an seinen Namen erinnerte. Erst einmal auf dem Markt, war der Absatz des Buches aber leider nur schleppend, denn die Leserschaft reizten die Menschen fressenden Mörderfische, die kriegswütigen Außerirdischen und die Gift spuckenden Schleimmonster der Konkurrenz viel mehr. Der große Knüller war sowieso der Roman von dem kannibalischen Präsidenten, und selbst der inzwischen längst blutarme Graf Dracula eroberte eher die Herzen der Horrorfans. Mitchell schien also endgültig auf dem absteigenden Ast zu sein.
An einem kalten Montagmorgen jedoch, als feine Regentropfen leise und gemächlich vom tristen grauweißen Himmel herabrieselten, wendete sich das Blatt. Der Autor lag noch im Bett in einem Zustand zwischen Wachen und Träumen, als er ein grollendes Geräusch vernahm - ein Poltern, das immer näher kam. Neugierig stand er auf und schaute aus dem Fenster, um die Ursache für jene Lärmbelästigung auszumachen. Da traute er seinen Augen kaum! Mit donnernden Schritten trabte ein grünhäutiges, dreibeiniges Ding die Hauptstraße entlang. Es hatte hellblau blinkende, kugelrunde Augen, und zwar je zwei davon an den drei Stielbeinen, und fünf Augen saßen, hübsch gleichmäßig angeordnet, genau über dem riesigen rosa Maul, das mit mehreren Reihen spitzer grauer Zähne bestückt war. Das seltsame Wesen rammte sein Gebiss in den Asphalt und ließ die halbe Straße unter ohrenbetäubendem Kauen und Knacken in seinem Schlund verschwinden. Ab und an gab es auch ein dröhnendes Rülpsen von sich.
Die aufgebrachten Bürger von Fantasy liefen verängstigt und schreiend durch die Stadt, während sich Hobbyfotografen im Bilderrausch vor Jubel beinahe überschlugen. Mitchell blickte noch immer ungläubig hinaus und betrachtete schmunzelnd die Spuren der Verwüstung, die das Monster hinterlassen hatte. Dieses Ungetüm, das sich durch die Straßen fraß, war seine eigene Schöpfung. Er hatte es nicht nur auf dem Papier verewigt, sondern tatsächlich zum Leben erweckt. Das, was er betrieb, war nicht länger Schriftstellerei - es war Magie.
* * *
Die Kunde von der Asphalt vertilgenden, dreibeinigen Kreatur verbreitete sich im Nu. Das ganze Land geriet in Aufruhr, denn das Monster war auf Wanderschaft und suchte jeden Tag eine andere Stadt heim. Es ruinierte Landstraßen und Autobahnen und machte nicht einmal vor Sackgassen Halt. Journalisten verfassten tagtäglich eine Flut von Artikeln über das mysteriöse Geschehen und entdeckten bei ihren Recherchen zufällig die bisher kaum beachtete Erzählung von Mitch Mitchell, die - welch ein Wunder! - bis ins Kleinste genau beschrieb, was das nimmersatte Wesen zu tun imstande war.
Von nun an prangte der Stern des Mitch Mitchell heller und glanzvoller am Bücherhimmel als je zuvor. Reporter nannten den Autor einen Monster-Propheten, und er tischte ihnen wilde Geschichten auf, berichtete von einem angeblichen Kontakt zu Geistern, von Erscheinungen und Traumvisionen. Vertreter von Presse, Funk und Fernsehen glaubten ihm alles und erklärten ihn zum Jahrhundertmedium, sahen sie seine Aussagen schließlich durch die jüngsten Vorkommnisse bestätigt.
Mitchell zog die große Schau ab und ließ Publikum und Kritik im Dunkeln tappen. Ihm war natürlich bewusst, dass Quentins Papier den Spuk hervorrief, doch dieses Geheimnis behielt er besser für sich, denn sollten die Leute je erfahren, dass er das Untier selbst erschaffen hatte, würden sie ihn wohl lynchen.
So aber vergötterten ihn die Leser und Filmproduzenten rissen sich um die Rechte an seiner literarischen Untat. Vergessen waren Beverly Grant und all die anderen Schreiberlinge. Mitchell überstrahlte die Konkurrenz und wurde als »Autor mit dem zweiten Gesicht« gefeiert. Letzten Endes war ihm also das Comeback geglückt.
* * *
In den nächsten Monaten und Jahren ließ Mitchell dem Asphalt-Beißer unzählige andere Ungeheuer folgen. Er schuf wundervoll leuchtende Käfer, die ganze Felder kahl fraßen, Wasserungeheuer, die in Badewannen auftauchten, Spukerscheinungen, die sich in Rathäusern und Regierungsgebäuden manifestierten, und Knabbermonster, die nächtens in den Supermärkten ihr Unwesen trieben und alle Süßigkeiten vertilgten. Mit solchem Schabernack verdiente Mitchell lange Zeit eine Menge Geld und stiftete allerorten Chaos. Dem phantasiearmen Autor gingen jedoch irgendwann die Ideen aus und er fiel nach und nach in seine alte Gewohnheit zurück.
Ein Horrorschriftsteller hat nun einmal wenig Freude daran, harmlose, hübsche Kreaturen zur Belustigung der Massen durch die Straßen spazieren zu lassen. Nein! Ein Horrorschriftsteller hat bloß ein Ziel: Er will Angst und Schrecken verbreiten, so gut er eben kann. Deshalb schickte Mitchell Außerirdische in die Hauptstadt, verwandelte die Toten auf den Friedhöfen in hungrige Zombies und den Bürgermeister seiner neuen Heimatstadt in einen Vampir. Bösartige Hexen fingen unartige Kinder und ein mürrischer alter Mann erschlug jeden kläffenden Hund. Kurzum, die ganze Welt geriet aus den Fugen.
Mitchell war für all das aber nur indirekt verantwortlich, denn eigentlich holte Quentins Schreibpapier das Dunkelste und Verwerflichste aus ihm heraus. Der übereifrige Autor arbeitete unablässig wie ein Besessener und verlor dabei mehr und mehr die Kontrolle über sein eigenes Werk.
* * *
Eines Tages - es war schon spät - läutete die Glocke schrill. Erbost über die nächtliche Ruhestörung ging Mitchell an die Tür.
»Guten Abend, Mr Mitchell!«, rief eine selbstbewusste Frauenstimme von draußen. »Ich muss mit Ihnen reden.«
»Wer ist da?«, knurrte er.
»Ich bin Beverly Grant«, stellte sich die Besucherin vor. »Vielleicht erinnern Sie sich an mich«, kokettierte die ehemalige Horror-Queen, die natürlich genau wusste, wie sehr er sie noch vor fünf, sechs Jahren beneidet hatte.
Mitch brütete gerade über einer neuen Geschichte und hätte jeden anderen wieder nach Hause geschickt, doch mit Beverly hatte er ein Hühnchen zu rupfen. Er wollte sie gerne demütigen, indem er ihr zeigte, was einen richtigen Autor ausmacht und wie professionell er war. Darum ließ er sie ein.
»Sie haben sich nett eingerichtet«, beurteilte Beverly das erlesene Inventar.
»Sie sind sicher nicht aufgekreuzt, um mit mir über Wohnkultur zu plaudern«, forderte Mitchell sie auf, gleich zur Sache zu kommen. Er hasste sie nach wie vor, verachtete ihre Oberflächlichkeit und ihre Hinterhältigkeit.
»Um es kurz zu machen - hören Sie damit auf!« Das waren ihre Worte. Rastlos durchmaß sie mit schnellen Schritten den Raum.
»Womit aufhören?«, tat Mitchell ahnungslos, als sei ihm unklar, was sie meinte.
»Ich weiß nicht, wie Sie es anstellen, aber ich weiß, dass Sie für all das Leid verantwortlich sind. Diese grässlichen Monster entspringen einzig und allein Ihrer kranken Phantasie!« Beverly war ziemlich erregt.
»Ihre Anschuldigungen beruhen bloß auf Vermutungen, Ms Grant«, bemerkte Mitchell sachlich. »Sie haben nicht einen Beweis.« Laut und hohl lachte er. »Wie sollte ich denn diese Wesen zum Leben erwecken? Ich habe kein Laboratorium wie ein gewisser Baron Frankenstein. Bitte, überzeugen Sie sich selbst! Durchsuchen Sie mein Haus! Ich öffne jede einzelne Schublade für Sie.«
Beverly zögerte. Sollte sie wirklich sein Heim durchstöbern wie eine Detektivin? Sie würde sich ja zum Narren machen! Wenn es irgendetwas Verdächtiges zu entdecken gäbe, hätte er ihr kaum angeboten, seine Schränke zu durchwühlen. Folglich bestanden zwei weitere Möglichkeiten: Entweder hatte er das Corpus Delicti so gut versteckt, dass er sicher war, dass sie nicht darauf stoßen würde, oder es befand sich bereits in ihrer Nähe. Vielleicht lag es vor ihren Augen und er hoffte, dass sie den Wald vor lauter Bäumen nicht sah. Diese Überlegungen lenkten ihren Blick auf den Arbeitstisch, wo Quentins Papier verstreut war.
»Sie schreiben mit der Hand?«, fragte Beverly erstaunt.
»Kommen Sie nicht vom Thema ab!«, rief Mitchell erzürnt.
Beverly stutzte. Musste er nicht froh sein, dass sie ein wenig abschweifte? Seine heftige Reaktion hatte gewiss etwas zu bedeuten.
»Sehr interessant, dass Sie sich solch eine Ursprünglichkeit bewahrt haben. Ich meine, es ist veraltet und ziemlich mühevoll, doch irgendwie rührend«, schwatzte sie beredt. »Auf Manuskripten kann man schlecht korrigieren und keinen Text nachträglich einfügen. Das erfordert eine hohe Konzentrationsfähigkeit«, schnatterte sie weiter, während sie ein leeres Blatt in die Hand nahm. »Es ist herrliches Papier, so glatt und weiß! Das verlockt zum Schreiben. Nun kann ich Sie verstehen, Mr Mitchell.« Dann bat sie ihn um einen Gefallen: »Wären Sie so nett, mir ein paar Seiten zu überlassen? Ich würde das auch gerne mal ausprobieren. Ach, Computer sind ja praktisch, aber so unpersönlich!«
»Kaufen Sie sich Ihr Papier doch selbst!«, fuhr er sie an.
»Nun, wo gibt es dieses hier?«, erkundigte sie sich.
Mitchell starrte ratlos ins Leere. Kalter Schweiß brach ihm aus allen Poren. Ohne es zu wissen, hatte sie ins Schwarze getroffen! Der Autor warf seine Kollegin hinaus und bedeutete ihr gehässig, sie solle sich lieber um ihre eigene, ins Stocken geratene Karriere kümmern.
»Stoppen Sie es!«, rief Beverly. »Sonst verlieren Sie die Kontrolle darüber.«
Mitchell schlug die Tür zu. Er hätte der frechen, dummen Gans gern selbst den Garaus gemacht, aber er war eben ein Schreibtischtäter. Eines seiner Monster würde diese Aufgabe besser erledigen als er.
* * *
Am nächsten Morgen harrte Mitchell gespannt der Dinge, die da kommen sollten. Vorsichtig zog er die Gardine zurück und lugte hinunter auf die Straße. Dort schlängelte sich zum Entsetzen der Einwohner von Fantasy ein riesiger grüner Wurm die Gasse entlang, der zielstrebig das Haus von Beverly Grant anpeilte und allem Anschein nach nichts Gutes im Sinn hatte. Nur Mitchell wusste, dass diese Kreatur seine ärgste Feindin verschlingen wollte.
Doch im Vorgarten angelangt, hielt das grässliche Vieh inne. Es richtete sich auf und drehte sich um die eigene Achse. Dabei stieß es ein herzzerreißendes Jaulen aus und jammerte unentschlossen vor sich hin. Das Wehklagen des Geschöpfes rief Beverly Grant auf den Plan. Sie sah durchs Fenster, sogleich ahnend, dass der ungebetene Gast von Mitchell geschickt worden war, und das sicherlich nicht zu ihrer Erbauung.
Beunruhigt beobachtete der Autor hinter den Gardinen das seltsame Geschehen in Beverlys Garten, das so gar nicht zu dem passte, was er dem Untier am Abend zuvor in seiner Geschichte zu tun befohlen hatte. Offenbar hatte das Wesen urplötzlich und ohne erkennbaren Grund vergessen, wozu es bestimmt war. Es begann, auf und nieder zu wippen, mal zu hüpfen, mal zu kriechen. Dann quietschte es vergnügt und wand sich mit grotesker Eleganz.
Kreidebleich sank Mitchell zu Boden. Diese Kreatur hatte aufgehört, Sklave seiner Phantasie zu sein, und führte von nun an ein unberechenbares Eigenleben. Vor Verzweiflung raufte sich der Schriftsteller die Haare. Er grübelte lange und konnte sich doch nicht erklären, weshalb das Monster den Gehorsam verweigerte.
* * *
Stunden später versetzten altvertraute Geräusche, die aus allen Himmelsrichtungen drangen, Mitchell in Schrecken. Angsterfüllt und vor Kälte zitternd, stand er am offenen Fenster, wo er Quieken und Pfeifen, Kreischen und Glucksen, Summen und Gelächter, Rauschen, Rasseln, Klicken und Trampeln vernahm. Nur zu gut kannte er diese Laute. Jene Monster, die er mit Hilfe des verwunschenen Papiers erschaffen hatte, waren sich wohl ihrer eigentlichen Bestimmung nicht mehr bewusst und schlugen jetzt instinktiv den Weg zurück zu ihrem Schöpfer ein.
»Was habe ich bloß falsch gemacht?«, raunte Mitchell reumütig. Sein Gehirn arbeitete auf Hochtouren an der Ursachenforschung. Es musste einen verhängnisvollen Umstand gegeben haben, durch den sein Kontakt zu den Kreaturen abgebrochen war. »Beverly Grant!«, schoss es ihm plötzlich durch den Kopf. »Sie hat die Verbindung zerstört, als sie das Papier berührte!«
Ihm graute bei dem Gedanken an ein Zusammentreffen all der Monster. Wenn sie sich in Fantasy tummelten, könnte das leicht das Ende der Stadt oder sogar das Ende der Menschheit bedeuten. Dies galt es zu verhindern! Deshalb holte Mitchell eiligst seinen Mantel, streifte ihn über und rannte die Straße hinauf zu Beverly Grant, in deren Vorgarten noch immer der verrückte Wurm tanzte.
»Sie müssen es aufhalten!«, schrie er ihr schon von weitem zu.
Sie sah ihn verwundert an. »Wie? Was? Ich muss es aufhalten? Was denn?«, rief sie.
»Kommen Sie mit, Beverly, Sie müssen uns retten!«, flehte er sie an.
»Ich verstehe nicht ganz«, antwortete sie zaudernd.
»Fragen Sie nicht! Kommen Sie einfach mit!« Mit diesen Worten packte Mitchell sie am Arm und riss sie mit sich fort.
Zornig widersetzte sie sich. »Sagen Sie mir endlich, was hier vor sich geht!«, schimpfte sie.
»Es ist das Pap... - es ist das Papier!«, stotterte er schuldbewusst. »Dieser Quentin schenkte es mir und von da an lief alles gut. Es hat mich wieder zum Star gemacht«, sprudelte er heraus.
»Was für Papier? Und wer ist Quentin?«, stieß sie verärgert hervor.
»Das Papier, das Sie gestern sahen! - Quentin ist ein Vertreter. Nein, er ist kein Vertreter. Er hat keinen Nachnamen. Es ist ein Pseudonym. Er ist seltsam. Ich bin mir nicht sicher, ob er überhaupt von dieser Welt stammt. Jedenfalls händigte er mir das Papier aus und ich begann zu arbeiten. Bald wurde ein Buch daraus. Es kam auf den Markt und floppte. Und eines Tages wurde es wahr! Für die Öffentlichkeit bin ich seitdem ein Hellseher. Ich schrieb die Geschichten nicht bloß - ich verwirklichte sie. Ich bestimmte über Glück und Leid, über Tod und Leben. Ich habe die Welt verändert. Ich habe diese Kreaturen erfunden und sie über die Menschheit gebracht. Ich hatte ja solch eine Macht!« Mitchells Augen funkelten. In Beverlys Blick hingegen mischten sich Furcht und Mitgefühl. Da bestand kein Zweifel, sie hielt ihn für wahnsinnig.
»Was erwarten Sie denn nun von mir?«, fauchte sie wütend.
»Vielleicht besitzen Sie jetzt diese Fähigkeit. Möglicherweise gehorcht der Zauber Ihnen. Schreiben Sie eine Geschichte, mit der Sie es beenden!« In seiner Stimme schwang noch Hoffnung. »Es liegt bei Ihnen. Ich bin all meiner Kraft beraubt.«
Beverly musterte ihn eingehend. Mitchell war völlig durchgedreht, ein Fall für die Psychiatrie. Er war verwirrt und zu jeder Tat fähig. Wie reagierte er, wenn sie ablehnte? Gewiss würde er ihr etwas antun. Also willigte sie ein und folgte ihm in sein Haus.
Mitchell schob sie förmlich durch den Flur in das Arbeitszimmer und drückte sie unsanft in seinen Drehsessel. Er breitete Quentins Papier vor ihr aus, reichte ihr den Füllfederhalter, und mit der Unerbittlichkeit eines Oberlehrers forderte er sie auf, sofort zu beginnen.
»Wie soll mir so schnell etwas einfallen?! Ich brauche Zeit zum Nachdenken, bevor ich anfange«, entschuldigte sie sich mit fragender Miene.
»Sie müssen kein Glanzstück liefern, sondern die Welt retten!«, entgegnete er schroff. »Schreiben Sie einfach drauflos! Na, machen Sie schon!«
Der ungeduldige Urheber des ganzen Übels munterte Beverly nicht gerade auf. Schwerfällig hob sie an, eine Geschichte zu konstruieren. Sie nannte sie »Kollision der Monster«.
»Vergessen Sie nicht, das Asphalt-Monster einzufügen!«, mahnte Mitchell die genervte Beverly. Der Erfolgsautor dank Zauberpapier wurde nicht müde, seiner Gefangenen von all den Kreaturen zu erzählen, die er in den letzten Jahren erschaffen hatte, so dass sie auch jedes einzelne Ungeheuer in ihr Werk einbauen konnte.
»Beeilen Sie sich!«, jammerte er kläglich. »Ich höre ihre Schritte. Sie rücken immer näher.«
Beverly blickte mutlos in den wolkenverhangenen Himmel der Stadt Fantasy.
Dann schrieb sie folgende Geschichte:
KOLLISION DER MONSTER
Die Kreaturen kamen, um sich vorm Hause ihres Schöpfers Mitch Mitchell zu versammeln. Das Asphalt-Monster fraß sich durch die Straße und blieb vor der Tür seines Herrn stehen. Die weißen Spukgestalten erschienen und begehrten Einlass. Die Wasserungeheuer tapsten die Gassen entlang und spien unaufhörlich Fontänen in die Luft. Das gelbe Knabbermonster stampfte hungrig auf einer Wiese umher, während es erfolglos nach Krümeln Ausschau hielt. Die schillernden Käfer bedeckten surrend jeden freien Fleck des Hauses und der Straße. Da brach ganz plötzlich ein Unwetter über Fantasy herein. Peitschender Regen wusch die Käfer von Dach und Wänden. Das glitzernde Ungeziefer ertrank und wurde vom Strom mitgerissen. Das Wasser spülte ebenso die Geister weg, deren immaterielle Hüllen vollends von den dicken Tropfen zerfetzt wurden. Das Knabbermonster löste sich unterdessen in einen gelben Brei auf. Der Donner grollte. Die Erde bebte und erschütterte die Stadt. Blitze zuckten am Himmel und trafen die Wasserungeheuer und das Asphalt-Monster. Die Ungetüme zitterten wie elektrisiert und plumpsten dann tot auf den Boden. Die Hexen stürzten von ihren Besen und versanken in den Fluten. Auch den Hundetöter trug der Regenfluss fort. Die Zombies trotteten durchnässt zurück zu ihren Gräbern und legten sich zur Ruhe. Der vampirische Bürgermeister zerfiel in seinem undichten Sarg bald zu einem feucht-klebrigen Aschehaufen. Wegen des ungastlichen Wetters düsten selbst die außerirdischen Besucher mit ihrem Raumschiff davon und flogen zurück zu ihrem Heimatplaneten. Da war die Herrschaft der Monster in Fantasy beendet.
Unzufrieden legte Beverly den Stift beiseite. Sie hatte eine wirklich schlechte Story geschrieben; wichtig aber war allein deren Umsetzung. Als sie sich erhob, fielen draußen in Fantasy die Monster ein. Kurz darauf begann der reinigende Regen. Die Bürger der Stadt liefen indessen schockiert durch die Straßen. Sie schrien und weinten, heulten und wimmerten.
»Es ist vollbracht!«, seufzte Beverly erleichtert, während sie durch die Fensterscheiben beobachtete, wie sich ihre grob gestrickte Geschichte buchstabengetreu ereignete. »Die Leute werden nicht erfreut sein, wenn sie erfahren, wem sie all das zu verdanken haben«, fügte sie hämisch hinzu.
»Was verlangen Sie von mir?«, fragte Mitchell, nichts Gutes ahnend.
»Ich will, dass Sie die Stadt verlassen! Ich will, dass Sie das Land verlassen!«, forderte Beverly. »Bevor Sie kamen, hatte ich den Markt in der Hand. Eines Tages soll es wieder so sein. Wir werden jetzt Quentins Papier vernichten und dann verschwinden Sie. Als Gegenleistung schweige ich über die Vorkommnisse.«
Mitch erfasste die Lage: Sie saß nun am Drücker - er hatte gar keine Wahl. Deshalb willigte er verdrossen ein.
Nachdem Beverly das Papier verbrannt hatte, überwachte sie Mitchells Auszug und jagte ihn persönlich aus seinem Haus und aus Fantasy. Als er das Ortseingangsschild passiert hatte, verabschiedete sie sich auf ihre Art.
»Ich habe Sie geschlagen!«, lachte sie kühn.
Daheim angekommen, erstarrte Beverly jedoch vor Grauen das Blut in den Adern, denn fröhlich tänzelnd wand sich noch immer der harmlose grüne Wurm in ihrem Vorgarten.
Währenddessen verließ Mitchell nach seinem überstürzten Weggang, besser gesagt, seiner Vertreibung, fluchtartig das Land.
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