Tabaka Derby Messer's Gesammelte Horrorgeschichten - Band I
Siebzehn Gruselgeschichten       ©  2005  Heike Hilpert, Selbstverlag
 Titel
 Vorwort
 Inhalt
 Der Mann mit dem Messer
 Das Gespensterschloss
 In Trance
 Der untrügliche Beweis
 Eine ungewöhnliche Hochzeitsnacht
 Der Whiskyvampir
 Spieglein, Spieglein an der Wand
 Die Sterne lügen nicht
 Blumen für Mr Carmichael
 Der Schlüssel
 Ein eleganter Pelz
 Maskerade
 Das Bauopfer
 Das Leben nach dem Tode
 Television City
 Der Vegetarier
 Im Schatten
 Information zur Autorin
 Literaturhinweis
 Impressum
Der Mann mit dem Messer

  Wer kennt nicht die Gestalten der Nacht! Alles wirkt bedrohlich, wenn es dunkel ist. Jeder Papierkorb mutet wie ein auf dem Boden hockendes Untier an, jeder Laternenpfahl könnte genauso gut ein großer, dürrer Wegelagerer sein. Das Rascheln im Gebüsch stammt möglicherweise von einem Unhold, der den Passanten auflauert, und durch das Geräusch der eigenen Schritte fühlt man sich verfolgt. Schemenhaft stehen Bäume und Häuser da; alle Gegenstände scheinen auf schwarze Umrisse reduziert zu sein. Zu viele Trugbilder foppen und verängstigen uns, und so mancher, der zu später Stunde noch unterwegs ist, fürchtet sich auch nicht grundlos.

  Laureen Moore, Kellnerin in einer kleinen Nachtbar, verließ gegen drei Uhr morgens das Lokal. Ausgelaugt vom langen, harten Arbeitstag und ziemlich müde, eilte die junge Frau durch die Stadt.
  Die Straßen waren von Nebel erfüllt. Bedrückende Stille - kein Laut war vernehmbar. Aus der Dunkelheit tauchte rechts von ihr eine große, finstere Gestalt auf und kam allmählich auf sie zu. Wie ein Schatten bewegte sich der nächtliche Passant und etwas Unwirkliches haftete ihm an, denn der Nebel verschluckte seine Konturen und ebenso das Geräusch seiner Tritte.
  Die Angst beschleunigte Laureens Schritte und ein kalter Schauer lief ihr den Rücken hinunter. Sie meinte die prüfenden Blicke des Fremden zu spüren. War er bloß ein argloser Spaziergänger? Ein einsamer Mann, der sich verirrt hatte? Oder war er vielleicht ein Sittlichkeitsverbrecher? Sie schloss die Augen und atmete tief die dumpfe Luft ein. Unterdessen wurde der Nebel immer dichter; bald nahm er ihr vollends die Sicht. Als sie sich ruckartig umdrehte, war der Fremde plötzlich verschwunden. Während sie geschwind nach Hause tappte, fragte sie sich, ob er tatsächlich fort war oder ob ihn bloß die undurchdringliche Nebelwand tarnte.


* * *

  Am nächsten Abend marschierte Laureen wieder zur Nachtbar. Nur vereinzelt brausten Autos an ihr vorüber, und kein Fußgänger war in jener abgelegenen Gegend zu dieser Zeit noch unterwegs. Es war bitterkalt. Den Mantel über die Ohren ziehend, hetzte sie beunruhigt durch die Straßen, denn die Erinnerung an die unheimliche Begegnung vom Vortag hatte sich ihr tief eingeprägt.
  »Wo warst du so lange? Du bist ja eine halbe Stunde zu spät! Ich dachte schon, du kämst gar nicht mehr.« Jillian, die Inhaberin des Lokals, schalt die junge Kellnerin, die sonst stets pünktlich war. Doch die beiden Frauen verstanden sich eigentlich hervorragend und waren gute Freundinnen.
  »Das hat alles seinen Grund«, entschuldigte sich Laureen. »Quintin hat mir heute Vormittag einen Heiratsantrag gemacht.« Der Gedanke an ihren Bräutigam und die bevorstehende Hochzeit zauberte ein Lächeln auf ihr Gesicht.
  »Das ist ja wunderbar!«, rief Jillian begeistert aus. »Ich freue mich so für dich!« Hierauf umarmte sie Laureen herzlich. »Du musst mir nachher alles erzählen - bis ins kleinste Detail. Geh jetzt aber erst mal an die Arbeit!« Scherzend fügte sie hinzu: »Die Leute vermissen dich bereits.«
  Tatsächlich war Laureen Moore der Liebling der Gäste. Ihre himmelblauen Augen strahlten, ihre Stupsnase wirkte keck, die schneeweißen Zähne sorgten für ein formvollendetes Lächeln und das blonde Wuschelhaar besiegelte ihre unnachahmliche Frische. Sie war immer witzig und immer froh. Solch eine Bedienung gefällt jedem, der sich am Ende des Tages vergnügen, erholen und stärken will.


* * *

  Nach Dienstschluss hatte Laureen es ziemlich eilig. Rasch lenkte sie ihre Schritte nach Hause, während sich weißer Nebel über die Stadt senkte. In der Ferne tauchte eine große, dunkle Gestalt auf, die geradewegs auf sie zukam. Der Schreck fuhr ihr in die Glieder - der Mann mit dem schwarzen Mantel und dem schwarzen Hut trug ein Messer bei sich, das er genau auf sie richtete! Bedächtig trat er ihr entgegen, so als wolle er ihr Angst machen. Der Kerl musste wohl ein Irrer sein und war sicher zu allem fähig. Trachtete er ihr vielleicht nach dem Leben?
  Geistesgegenwärtig rannte sie davon. Während sie über das holprige, feuchte Kopfsteinpflaster stolperte, steigerte der Widerhall der eigenen Schritte ihre Furcht. Kalter Schweiß stand ihr auf der Stirn. Das Blut pulsierte in ihren Schläfen. Das Herz schlug ihr bis zum Hals. Völlig entkräftet und verängstigt erreichte sie schließlich ihre Wohnung.


* * *

  Am nächsten Tag wollte Laureen Jillian von dem seltsamen Mann erzählen. Das hatte sie sich fest vorgenommen. Doch dann überkam sie Scham. War es nicht töricht gewesen, vor ihm zu fliehen? Und war es nicht verwerflich, sich nun eine Räuberpistole zusammenzureimen? Er hatte ja nicht mal versucht, sie anzugreifen! Deshalb schwieg sie über die Ereignisse der letzten beiden Nächte und widmete sich voll und ganz den Gästen. Der Abend verging wie im Fluge und wie am Vortag verließ sie das Lokal gegen drei Uhr morgens.
  Nebelfetzen krochen die Straße entlang und wälzten sich träge durch die Stadt. Alle paar Schritte hielt Laureen inne und sah sich ängstlich um. Obwohl sie es sich nicht eingestehen wollte, fürchtete sie, der Fremde komme wieder.
  Im Lichtschein einer Laterne wurde bald eine Silhouette sichtbar - der Mann mit dem Messer! Wie tags zuvor lief er ihr langsam entgegen, die Waffe in der Hand. Laureen erkannte sofort die drohende Gefahr, hatte sie ja den Bösewicht schon erwartet. Noch war er weit weg und näherte sich nur gemächlich, so dass ihr genug Zeit blieb, sich in Sicherheit zu bringen. Abermals rannte sie davon, so schnell sie die Füße trugen, denn sie bangte um ihr Leben.


* * *

  Am folgenden Abend fasste Laureen sich endlich ein Herz und berichtete Jillian von den unheimlichen Begegnungen.
  »Du musst noch heute zur Polizei gehen. Du bist doch in Gefahr!« Jillian war ganz entrüstet über Laureens Unvorsichtigkeit. »Vielleicht ist es dieser Verrückte, der vor ein paar Wochen aus der Haftanstalt ausgebrochen und seither untergetaucht ist«, befürchtete sie. »Er könnte durchaus hier in der Nähe sein Unwesen treiben. Man jagt ihn ja zwar allerorten, aber er ist einfach zu gerissen. Jedenfalls ist es der Polizei bisher nicht gelungen, ihn zu fangen. Und vermutlich plant er bereits weitere abscheuliche Morde.« Jillian machte sich Sorgen um ihre beste Freundin. »Du darfst das nicht auf die leichte Schulter nehmen. Denk mal nach, Laureen! Es besteht in der Tat die Möglichkeit, dass es sich bei dem Fremden um ihn handelt.«
  Laureen war klar, dass etwas geschehen musste. Was wollte der Mann mit dem Messer von ihr? Warum bedrohte er sie ständig, kam ihr jedoch niemals nahe? Er benahm sich wirklich nicht wie ein entflohener Sträfling und erst recht nicht wie ein Serientäter. Wäre er tatsächlich der entlaufene Mörder, dann hätte er ihr längst den Garaus gemacht. Was aber führte er sonst im Schilde? Um dies herauszufinden, wollte sie ihn schnellstens zur Rede stellen. So wartete sie extra bis drei Uhr, um auch sicher zu sein, dass sie den Missetäter erneut treffen würde.
  Aufgewühlt lief sie die Straße entlang. Klar war die Nacht und still. Es dauerte keine zwei Minuten, bis der Mann wieder erschien. Das Messer in seiner Hand blitzte. Laureen wollte schon flüchten. Ihr Herz pochte dumpf, mahnend, warnend; es trommelte den Rhythmus der Angst. Wankelmütig verharrte sie auf dem Fleck. Sollte sie dem Unhold wirklich gegenübertreten oder lieber das Weite suchen? Unschlüssig stand sie da, während der Verdächtige sich näherte. Ihre brennende Neugier, gemischt mit einer gehörigen Portion Einfalt, gewann schließlich die Oberhand, und als es für einen Rückzug zu spät war, gab sie ihr die Kraft, den Übeltäter anzusprechen.
  »Was machen Sie da mit dem Messer? Warum verfolgen Sie mich?« Obgleich Laureens Knie zitterten, klang ihre Stimme ruhig.
  »Ich verfolge Sie doch nicht!«, lachte der Mann in Schwarz lauthals los.
  »Sie sind ja verrückt!«, schrie Laureen nun verzweifelt, jeden Augenblick auf einen Angriff gefasst.
  »Möglicherweise bin ich das. Ach, was tut man nicht alles, um Geld zu verdienen! - Mein Name ist Lionel Amber. Ich arbeite für ein Meinungsforschungsinstitut und wir testen gerade, wie viel Prozent der Bevölkerung sich vor dunklen Männern mit blanken Messern fürchten.«

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