Tabaka Derby Messer's Gesammelte Horrorgeschichten - Band I
Siebzehn Gruselgeschichten       ©  2005  Heike Hilpert, Selbstverlag
 Titel
 Vorwort
 Inhalt
 Der Mann mit dem Messer
 Das Gespensterschloss
 In Trance
 Der untrügliche Beweis
 Eine ungewöhnliche Hochzeitsnacht
 Der Whiskyvampir
 Spieglein, Spieglein an der Wand
 Die Sterne lügen nicht
 Blumen für Mr Carmichael
 Der Schlüssel
 Ein eleganter Pelz
 Maskerade
 Das Bauopfer
 Das Leben nach dem Tode
 Television City
 Der Vegetarier
 Im Schatten
 Information zur Autorin
 Literaturhinweis
 Impressum
Der untrügliche Beweis

  Vor ein paar Jahren ereignete sich im spätherbstlichen London eine verhängnisvolle Geschichte. Dabei begann alles ganz harmlos mit einem großen Paket per Eilsendung, und es war am frühen Morgen, als man nicht wusste, ob Dämmerung oder Nebel die Stadt verhüllte.

  Zwei Postbedienstete bugsieren eine lange, in braunes Packpapier eingeschlagene Kiste die Treppe hinauf.
  »Heutzutage muss ein Postbote als Lastesel fungieren«, brummt der hintere Träger, ein bereits ergrauter Mann von untersetzter Statur.
  »Das gehört zum Kundendienst, Paul!«, kichert darauf Ricky, der junge Bursche vorn.
  »Du mit deiner Bodybuilder-Figur hast gut reden, bist auch dreißig Jahre jünger als ich«, murrt der beleibte Ältere.
  »Wir sind doch schon da, Paul. Hier wohnt ein gewisser James Carpenter. Auf dem Paket steht ›J. Carpenter‹. Also klingeln wir!«
  Die Glocke schrillt.
  Unwillig dreht sich James Carpenter im Bett. Er knipst die kleine gelbe Nachttischlampe an. Erst halb sieben? Nein, die sollen ruhig schellen! Wer auch immer da draußen steht, kann später zurückkommen, wenn er etwas von ihm will. Außer einer schöpferischen Eingebung treibt um diese Zeit einen freischaffenden Maler wie ihn nichts aus dem Bett. Er wirft noch einen selbstgefälligen Blick in den Spiegel auf dem Nachtschränkchen und schnell dreht er sich wieder um.
  Die Paketzusteller allerdings lassen nicht locker. Sie klingeln abermals.
  »Scheint keiner da zu sein«, befürchtet Paul. »Jetzt müssen wir die Kiste erst runtertragen und dann erneut hierherauf.«
  »Vielleicht schläft er auch nur«, entgegnet Ricky zuversichtlich und läutet ein drittes Mal.
  »Frechheit!«, knurrt James Carpenter und kriecht zähneknirschend aus den Federn. Er legt sich einen edlen Morgenmantel aus goldfarbener Seide um und öffnet die Tür.
  »Nanu!«, staunt er.
  »Dieses Expressgut ist heute Nacht für Sie angekommen«, unterrichtet Paul den Empfänger.
  Carpenter drückt dem pflichtbewussten Boten ein reichliches Trinkgeld in die Hand und verschwindet mit dem riesigen Paket in seiner Wohnung. Er schaut sogleich auf den Absender, der ihm jedoch unbekannt ist. Irgendwo in Kalifornien haust er. Das gefällt ihm gar nicht, dem gut aussehenden Maler mit den markanten Gesichtszügen und den grauen Schläfen. Misstrauisch beugt sich der schlanke, hochgewachsene Künstler über das Paket. An Kalifornien hat er unangenehme Erinnerungen, die er nun seit knapp zwanzig Jahren verdrängt. Holt ihn die Vergangenheit jetzt wieder ein? Hat ein Zufall die dunklen Geschehnisse ans Licht gebracht?
  Angsterfüllt reißt Carpenter das Packpapier weg. Wer hat ihm eine vernagelte Holzkiste gesandt? Ungeduldig kramt er aus seinen Kommoden das schon ein wenig verrostete Werkzeug hervor und schickt sich an, die Nägel herauszuziehen, was lange dauert, denn er verfügt - wie die meisten Schöngeister - über kein sehr großes handwerkliches Können.
  Als er aber den Inhalt des Pakets freigelegt hat, prallt er entsetzt zurück. Seine schlimmsten Befürchtungen werden noch übertroffen: In der Kiste ruht, sorgsam wie eine Kostbarkeit eingebettet, ein halb zerfallenes Skelett - das Skelett eines Menschen! Dessen grausig verrenkte Knochen sind durch die Gelenke nur locker verbunden. Um die schadhaften Zähne scheint ein bedrohliches Grinsen zu huschen, und in der Morgendämmerung wirkt es fast, als treffe Carpenter ein schrecklicher, höhnischer Blick aus den leeren Augenhöhlen. Sonderbar verkrampft sind die Hände des Gerippes, so als sammelten sie Kraft, um ihn im nächsten Moment an der Kehle zu packen.
  Schon will er zurückweichen, als er einen kleinen Zettel neben dem Skelett entdeckt, auf dem Folgendes steht:

Endlich haben wir sie gefunden, den untrüglichen
Beweis erbracht, Carpenter. Das Spiel ist aus.

Police

  Am ganzen Körper bebend, sinkt Carpenter hin.
  »Das Spiel ist aus!«, murmelt er geschockt und presst aus den harten braunen Augen zum ersten Mal seit Jahren Tränen. Das Blatt entgleitet seinen zitternden Händen, die er bald darauf im schwarzen Haar vergräbt.
  »Alles aus!«, zischt er.
  Er greift zum Telefonhörer. Am anderen Ende der Leitung knackt es und ein Inspektor Kelly meldet sich.
  »Hier ist James Carpenter«, krächzt er. »Jetzt, wo Sie die Leiche haben, gebe ich mich geschlagen. Ich bekenne mich schuldig, vor zwanzig Jahren May Miller aus Rache erdrosselt und in der Mojave-Wüste in Kalifornien verscharrt zu haben. Ich halte mich zur Verhaftung bereit.« Dann legt er auf. Nun muss er nur warten, bis die Polizei kommt und ihn festnimmt.
  Geplanter Mord! Das bedeutet, er wird das Gefängnis wohl nie mehr verlassen. Dabei hatte damals alles vorzüglich geklappt. Er hatte einen perfekten Mord verübt und sich ein lupenreines Alibi verschafft. Zwar war er in Verdacht geraten, aber Mays Leiche tauchte ja nie auf, und die übrigen Beweise waren für eine Anklage unzureichend. (Dass man sie so plötzlich gefunden hat, kann doch bloß Zufall sein!) May Miller hatte mit ihrer Hassliebe zehn Jahre seines Lebens zerstört, zudem sein künstlerisches Schaffen für wertlos befunden und ihn letztendlich überall lächerlich gemacht, nervlich zerrüttet, komplett ruiniert. Jetzt wird sie ihm posthum auch noch den Rest seines Daseins verbittern, indem ihre Leiche dafür sorgt, dass er in einer dumpfen Zelle verrottet.
  James Carpenter kleidet sich an, bürstet sich traurig das Haar. Von nun an ist es egal, wie er aussieht. Ihn wird keiner mehr anschauen - leider! -, und nie wieder wird er malen und seine Bilder ausstellen können. Er hat sein Anrecht auf ein Leben in Freiheit und Luxus verwirkt.
  Da klingelt es stürmisch. Carpenter öffnet die Tür. Drei Polizisten kommen und rasseln mit den Handschellen, obwohl aus ihren Zügen Ratlosigkeit spricht. Der erste lächelt mitleidig, so als habe er es mit einem Geisteskranken zu tun, der zweite stellt die Fragen, der dritte protokolliert. Carpenter erzählt seine Geschichte, woraufhin Inspektor Kelly das Paket in Augenschein nimmt. Verwundert den Kopf schüttelnd, bestaunt er das Gerippe.
  »Ich weiß zwar nicht, wer Ihnen das zugesandt hat«, räumt der Inspektor ein, »aber wir nehmen es auf alle Fälle mit«, meint er entschlossen.
  Carpenter verlässt seine Wohnung in Fesseln, die anderen schleppen die Kiste. Da kommt ihnen auf der Treppe ein Mittdreißiger mit nichtssagendem, doch intelligentem Gesicht entgegen.
  »Oh! Ist es das?«, ruft er aufgeregt.
  »Was?«, fragen die Männer wie aus einem Munde.
  »Das Skelett! Es ist einer der bedeutendsten Funde in der Menschheitsgeschichte und wurde erst vor ein paar Tagen in der Mojave-Wüste in Kalifornien ausgegraben. Es gehört mir!«
  »Aber -!« Der Inspektor, ein kleiner, beleibter Mann mit dünnem Haar und dicker Zigarre, stockt.
  »Mein Kollege, wir nennen ihn ›Police‹, hat mich vorhin angerufen und mir gesagt, er habe endlich ein beinahe vollständig erhaltenes menschliches Gerippe entdeckt und mir zur wissenschaftlichen Untersuchung zugeschickt. Es war in einer Erdschicht eingeschlossen, die aus einem so frühen Zeitalter stammt, dass dieser Fund unser Weltbild verändern wird. Niemand wollte uns glauben. Alle hielten uns für Wichtigtuer und überspannte Narren. Doch nun gebührt uns der Ruhm!« Freudig reißt der Forscher die Arme hoch. »Das Spiel ist aus für unsere Gegenspieler, die Winter Brothers, die selbst den Beweis für diese Theorie erbringen wollten.«
  »Das Paket ist an Mr J. Carpenter gerichtet!«, versucht der Inspektor aufzuklären.
  »Das ist mein Name. Ich heiße Jason Carpenter.«
  »Aber ich heiße doch auch ...« James Carpenter, dem Maler, fehlen die Worte.
  »Verzeihen Sie, dass ich mich Ihnen noch nicht vorgestellt habe! Ich bin erst vor zwei Tagen hier eingezogen«, entschuldigt sich Jason Carpenter. »Ich hoffe, dass ähnliche Verwechslungen nicht wieder vorkommen«, lächelt der Paläanthropologe. Als er jedoch bemerkt, dass sein neuer Nachbar mit Handschellen gefesselt ist, kraust er die Stirn.
  »Verwechslungen gibt es bestimmt nicht mehr«, verspricht der Inspektor. »Mr James Carpenter hat gerade einen Mord gestanden.« Mit diesen Worten zerrt der tatkräftige Inspektor Kelly den Maler mit sich fort.
  »Bekomme ich jetzt das Gerippe?«, fragt der Wissenschaftler fordernd.
  »Nun - hm! - na ja! - na gut!«, genehmigt Inspektor Kelly zögernd.
  Erleichtert setzen die Polizisten die Kiste ab.
  Jason Carpenter ergreift das Paket und schleift es fröhlich pfeifend die Treppen hinauf.

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