Tabaka Derby Messer's Gesammelte Horrorgeschichten - Band I
Siebzehn Gruselgeschichten       ©  2005  Heike Hilpert, Selbstverlag
 Titel
 Vorwort
 Inhalt
 Der Mann mit dem Messer
 Das Gespensterschloss
 In Trance
 Der untrügliche Beweis
 Eine ungewöhnliche Hochzeitsnacht
 Der Whiskyvampir
 Spieglein, Spieglein an der Wand
 Die Sterne lügen nicht
 Blumen für Mr Carmichael
 Der Schlüssel
 Ein eleganter Pelz
 Maskerade
 Das Bauopfer
 Das Leben nach dem Tode
 Television City
 Der Vegetarier
 Im Schatten
 Information zur Autorin
 Literaturhinweis
 Impressum
Maskerade

  Falls Sie, meine treuen Leser, Trends und Strömungen in unserer Gesellschaft aufmerksam beobachten, so werden Sie feststellen, dass wir uns im Eiltempo auf eine neue Ära zubewegen - eine Epoche der medial gesteuerten Verrohung. Schauen Sie doch nur einmal mit offenen Augen in die Programmzeitschrift! Was lesen Sie da? Kriminalfilme und Psychothriller, Katastrophen- und Horrorstreifen beherrschen die Fernsehlandschaft. Außerdem wird gerne authentisches Leid telegen aufgepeppt, so dass sich der Mitleid heuchelnde Voyeur am Bildschirm auch daran weiden kann, während er den prallen Hamburger verschlingt und ganz nebenbei die Einschaltquote in die Höhe treibt. Man langweilt sich beim Karten- oder Golfspiel; deshalb sucht man nach Vergnügungen, Mutproben und Herausforderungen. Ich sage Ihnen eins: Diese Welt ist verrückt - toll! Unternehmen wir nun eine kleine Reise in die Zukunft!

  Wir befinden uns in einer Gesellschaft, die alles Gewöhnliche im Überfluss hat, wodurch die Gier nach etwas Besonderem, Abenteuerlichem oder Anrüchigem beständig wächst. Man arbeitet wenig oder lässt für sich arbeiten, verdient dabei genug und hat alles, was das Herz begehrt, unter anderem auch viel Freizeit, jedenfalls zu viel, um sie sinnvoll zu gestalten.
  Not und Elend gibt es wie eh und je. Entweder wird das übersehen oder man ergötzt sich gar daran. Die meisten führen ein Dasein in Sicherheit und Luxus. Glücklich ist aber keiner, denn es fehlt etwas: Es passiert nichts mehr! Verzweifelt suchen die Leute deshalb nach einem Höhepunkt, dem ultimativen Nervenkitzel, nach etwas, was ihnen die Zeit verkürzt und die beängstigende innere Leere vertreibt, sei es auch nur für einen Augenblick, nach etwas, was sie belustigt oder beschäftigt und in ihr eintöniges, nutzloses Leben eine Abwechslung bringt.
  Im Zeitalter der Medienherrschaft aufgewachsen und stets sich selbst überlassen, ist keiner mehr fähig, sich wirklich für etwas zu interessieren oder kreativ tätig zu sein. Zu intelligent, um zu schwärmen; zu egoistisch, um zu fühlen. Und hat jemand noch einen Funken Phantasie, dann bekommt er zweifelsohne einen verlockenden, einträglichen Job als Erfinder von Gesellschaftsspielen und modernem Zeitvertreib.
  Einer von jenen begnadeten Leuten war Irvin Collins. Der verschrobene Mittvierziger mit dem lichten, grau melierten Haar und der weit vorspringenden, gebogenen Nase hatte beinahe Berühmtheit erlangt. Bekannt wurden vor allem seine außergewöhnlichen Feste, wo er die Gäste mit extremen, zuweilen auch geschmacklosen Späßen aus ihrer Gleichgültigkeit aufrüttelte. Irvin Collins war eine drollige Gestalt mit langen, dünnen Gliedern, die an den Gelenken baumelten, und fast lächerlich breiten Schultern. An seinem sperrigen Körper hingen selbst die feinsten Designer-Jacketts wie Lumpen. Mit den spindeldürren Armen gestikulierte er pausenlos wild in der Luft und die nervösen, knotigen Finger blieben keine Sekunde ruhig, betasteten immerzu Gegenstände, zitterten wie elektrisiert oder trommelten auf die Tischplatte. Der sehnige, schiefe Hals mit dem stark hervortretenden Kehlkopf, das kantige Kinn und die Hakennase verliehen ihm das Aussehen eines Geiers. Sein schwankender Gang machte die Vogelscheuche perfekt. Seine kleinen hellgrauen Augen blickten ständig rastlos und wachsam umher und musterten die Gäste währenddessen genauestens, stets auf der Suche nach einem genialen Einfall. Wenn er irgendwann plötzlich mit den Fingern schnippte, die Brauen ruckartig hochzog und die blassen, schmalen Lippen zusammenpresste zu einem Strich, dann wussten alle: Collins hat eine Idee! Und man staunte über diesen Mann.
  Nun ist es nicht verwunderlich, dass sich unter seinen Bekannten Betroffenheit breitmachte, als sie erfuhren, dass der Meister beim russischen Roulette die Kugel abbekommen und somit allzu früh das Zeitliche gesegnet hatte. Jedoch war es weniger die Trauer um den verlorenen Freund, die die illustre Gesellschaft in Scharen an sein Grab trieb, als der Verdruss darüber, dass von jetzt an niemand mehr für Unterhaltung sorgte.
  Seine letzte glänzende Idee hatte Collins glücklicherweise noch notiert, so dass sie der Nachwelt erhalten geblieben war. Ein Maskenball sollte veranstaltet werden ganz wie in verflossenen Jahrhunderten mit schrillen Kostümen, schrägen Darbietungen, derbem Schabernack und einem reichhaltigen Angebot von Speisen, Getränken und allerlei anregenden Rauschmitteln. Stattfinden sollte die Maskerade auf dem prächtig ausgestatteten Anwesen des verstorbenen Genies. Seine Bediensteten verfügten über eine Liste voller Anweisungen, wie das Fest zu gestalten und der Park dafür herzurichten sei. Diese Notizen waren so ausgeklügelt, dass man munkelte, Collins habe seinen baldigen Tod vorausgeahnt oder sein Ableben gar von langer Hand vorbereitet und die Idee für den Mummenschanz sozusagen als Erbe hinterlassen.


* * *

  Zum Maskenfest glich Irvin Collins' Park einem Jahrmarkt. Bunte Lämpchen beleuchteten den Garten, Girlanden aus Goldpapier schmückten ihn und überall dröhnte Musik. Schätzungsweise vierhundert bis fünfhundert Gäste kamen, verkleidet als Kaiser Nero und Napoleon, als Dichterfürst Goethe und William Shakespeare, als Mozart und Beethoven, Washington und Lenin, Queen Victoria und Karl Marx, Einstein und Lincoln, Marilyn Monroe und Elvis Presley, als Faust und Mephisto, Romeo und Julia, Robin Hood und Göttervater Zeus.
  Kurzum, kaum eine wichtige Persönlichkeit der Weltgeschichte fehlte auf diesem Ball und auch viele unvergessene Künstler waren als Masken und Kostüme vertreten. Natürlich gab es ebenso die weniger berühmten, aber nicht minder schillernden Gestalten, die phantastische Monster, Hexen und Teufel, Engel und Feen, Nymphen und Elfen sowie Helden und Götter aus der griechischen Mythologie und viele zauberhafte Wesen aus alten Sagen darstellten. Manche Besucher erschienen sogar als Tiere verkleidet. Ganz besonders hässlich war der Herr mit dem Adlergesicht.
  Nicht zu beschreiben brauche ich wohl, wie der Wein in Strömen floss, wie die Korken der Champagner-Flaschen knallten, wie die Röcke zur beschwingten Walzermusik über den Rasen glitten, wie sich die leeren Teller sofort wieder füllten, denn die allzeit bereiten Kellner im Pinguin-Kostüm huschten unauffällig durch das bunte Treiben. Unzählige Gaukler und Pantomimen unterhielten die Anwesenden stundenlang mit ihren Kunststücken. Nie zuvor hatte die Gesellschaft solch ein rauschendes Fest erlebt.
  Als die Sonne gesunken war, tauchten die altertümlichen Laternen, die Collins vor seinem Heimgang aus verschiedenen Museen beschafft hatte, den Park in ein gespenstisches silbernes Licht.
  Viele Gäste waren inzwischen betrunken. Sie lallten nur noch müde, denn der schwere Wein lähmte ihre Zunge. Andere lagen, ihrer Sinne beraubt, ohnmächtig unter den Tischen. Einige hatten sich mit dem Buffet übernommen und saßen regungslos auf ihrem Stuhl. Sie alle waren teilnahmslos und vollends außer Gefecht gesetzt. Die übrigen Anwesenden jedoch, vielleicht an die hundert Leute, fanden sich zusammen und resümierten bereits den Abend.
  »Ein gelungener Ball!«, lobte die etwas zu dürr geratene Marilyn Monroe.
  Die drei Musketiere pflichteten ihr bei.
  »Wo ist denn der Höhepunkt? Wann passiert hier endlich etwas Aufregendes?«, näselte ein Herr mit rundem Bauch und Elefantenmaske.
  »Er hat recht!«, grölten einzelne Besucher. Und die Menge stimmte ihnen zu.
  Plötzlich vernahm der junge Herr im Casanova-Kostüm ein Rascheln, das allem Anschein nach aus einer der Hecken kam. Möglicherweise hatte sich jemand hinter einem Strauch versteckt. In der Erwartung, etwas Fürchterliches würde gleich geschehen, tippte der Casanova angsterfüllt seinen als Flamingo verkleideten Nebenmann an und flüsterte: »Da regt sich was!«
  »Wo?«, fragte der gelangweilt und machte sich nicht einmal die Mühe, den Casanova anzuschauen.
  »Hinter uns - im Gestrüpp!«, erwiderte dieser.
  Das Geräusch kam näher.
  »Vielleicht ein Hase oder ein Vogel«, winkte der andere desinteressiert ab.
  »Nein!«, beharrte der Casanova. »Das sind Schritte!«
  »Na und? Wird ein Besoffener sein, ein Junkie oder ein Penner.«
  Im selben Moment schoben zwei dürre Hände das Buschwerk zur Seite. Eine lange Gestalt trat hervor und blitzte die Anwesenden höhnisch an. Die Gäste wichen erschrocken zurück, ließen den Unverschämten passieren, starrten ihn ungläubig und entsetzt an. Was sie im Dunkel der Nacht nur ahnten, im Lichtschein der Laternen wurde es augenfällig - für jeden sichtbar.
  Ein übler Scherz! Welch unerhörter Auftritt bar aller Pietät! Wahnsinn! Aberwitz! Der dreiste Eindringling erlaubte sich, den von einem jeden so verehrten Irvin Collins posthum zu beleidigen. Der Freche war in Collins' Gestalt gekommen!
  Ein Diener rief: »Fasst den Strolch!«
  Ein anderer schrie: »Sie wagen es!«
  Der Nächste: »Geschmacklos!«
  »Verbrecher!«
  »Betrüger!«
  »Schandtat!«
  »Taktlosigkeit!«
  Pfiffe ertönten. Alle kreischten wild durcheinander.
  »Entlarvt den Elenden!«
  Immer lauter tobte die Menge.
  »Zieht ihm die Maske herunter!«, forderte ein Einzelner. »Wir wollen wissen, wer das Scheusal ist.«
  Daraufhin stürzte sich die gereizte Horde wie eine Meute tollwütiger Hunde auf den ungebetenen Gast. Sie streckten ihn mit brutalen Schlägen nieder, traktierten ihn mit Tritten, zerrten an ihm, zerfetzten seine Kleidung, rissen ihm die Haare aus, zerkratzten sein Gesicht und seinen ganzen Körper. Doch sie fanden keine abnehmbare Maske! Erst als überall an seinem zerschundenen Leib Beulen schwollen und das Blut dunkelrot aus den Wunden quoll, ließen sie von ihm ab. Auf den ohrenbetäubenden Lärm der Jubelrufe, der Seufzer und der Schmerzensschreie des Opfers folgte Ruhe - absolute Lautlosigkeit. Totenstille.
  In den hinteren Reihen reckten die Gäste neugierig den Hals in die Höhe. Weiter vorn stockte ihnen der Atem. Betroffenheit und Scham stand ihnen ins Gesicht geschrieben. Mit glasigen Blicken schielten sie auf den Meister Irvin Collins, um den sie so getrauert hatten und dessen widersinniger, grotesker und überaus makaberer Gag sie dermaßen in einen Rausch der Gewalt getrieben, dass sie ihn mit ihren eigenen Händen fast zerfleischt hatten.
  »Ruft einen Arzt!«, hörte man jemand mit schriller Stimme aufheulen.
  »Holt einen Krankenwagen!«, besannen sich jetzt auch die anderen.

  Seit diesem unglückseligen Vorfall ist die Freizeitindustrie um vieles ärmer geworden, denn ihr fehlt einer der größten Erfinder moderner Gesellschaftsspiele: Irvin Collins. Nachdem die Ärzte ihn wieder zusammengeflickt und von seinem Antlitz gerettet hatten, was noch zu retten war, kehrte der Arme heim - allerdings nur für kurze Zeit. Dann zog er mitsamt seinem Personal weg, aber bis heute weiß niemand, wohin.

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