Tabaka Derby Messer's Gesammelte Horrorgeschichten - Band I
Siebzehn Gruselgeschichten       ©  2005  Heike Hilpert, Selbstverlag
 Titel
 Vorwort
 Inhalt
 Der Mann mit dem Messer
 Das Gespensterschloss
 In Trance
 Der untrügliche Beweis
 Eine ungewöhnliche Hochzeitsnacht
 Der Whiskyvampir
 Spieglein, Spieglein an der Wand
 Die Sterne lügen nicht
 Blumen für Mr Carmichael
 Der Schlüssel
 Ein eleganter Pelz
 Maskerade
 Das Bauopfer
 Das Leben nach dem Tode
 Television City
 Der Vegetarier
 Im Schatten
 Information zur Autorin
 Literaturhinweis
 Impressum
Television City

  Wie viele Stunden verbringen Sie täglich vor Ihrem Fernsehgerät? Hand aufs Herz! Es dürften so einige Stunden sein. Trotzdem nehme ich an, dass fernsehen noch nicht zu Ihrem Lebenszweck geworden ist. Wenn Sie Muße haben, erzähle ich Ihnen nun von einer Stadt, wo die bewegten Bilder längst realer erscheinen als die Welt vor der Haustür. Der Einfachheit halber nenne ich sie Television City - ich will ja niemandem zu nahe treten.

  Irgendwo in dieser großen, weiten Welt gibt es eine merkwürdige Stadt namens Television City. Wenn du schnurstracks immer geradeaus gehst, gelangst du auf eine Prachtstraße, über der ein riesiges Begrüßungsschild prangt. »Welcome to Television City« laden dich die fetten schwarzen Lettern darauf ein. Daneben ist ein Vergnügungspark abgebildet. Betrachtest du diesen näher, dann glaubst du die dröhnende Musik eines Jahrmarkts zu hören, siehst die bunten Lichter eines Karussells aufleuchten, riechst den Duft von frischen Waffeln und vernimmst Gelächter. Du fühlst dich unmittelbar in ein Gewimmel versetzt und möchtest dich am liebsten sofort ins Getümmel stürzen.
  Wendest du jedoch den Blick ab von diesem Plakat und schaust dich einmal mit offenen Augen um, so stellst du mit Entsetzen fest, dass die ganze Stadt wie ausgestorben ist. Die Straßen sind sauber, aber leer, die Häuser sind zwar anscheinend bewohnt, doch kein Laut dringt durch die Fenster an dein Ohr, und sosehr du dich auch bemühst, ein Gesicht hinter den dicken Gardinen auszumachen - dein Streben wird vergebens sein.
  Allmählich kommt es dir vor, als befändest du dich in einer Geisterstadt oder in einem Traum, der sich langsam vom Wunschbild zur Horrorvision wandelt. Ohne wirklich zu begreifen, was um dich herum geschieht, verspürst du nach und nach die unheimliche Atmosphäre des Ortes. Du beäugst noch einmal (jetzt fast ungläubig) das Werbeschild - den Willkommensgruß mit der lebendigen Szene. Da scheint es dir plötzlich, als wäre das starre Bild das einzig Bewegliche an jenem Ort, als hätte es die Energie dieser Stadt in sich aufgenommen, als wäre es eine auf Blech verewigte Erinnerung an eine längst vergessene Zeit.
  Da es hier offensichtlich nichts Erwähnenswertes gibt, machst du enttäuscht auf dem Absatz kehrt und verlässt Television City schnellstens. Allen Leuten, die du triffst, wirst du sagen, dass es sich nicht lohnt, dorthin zu fahren, weil die Stadt so hohl und tot ist wie der untere linke Backenzahn deines Onkels Fred. Und da sich die meisten Leute verhalten wie du, kommt nur sehr selten jemand nach Television City. Hättest du jedoch hinter die Gardinen zu blicken gewagt, dann hättest du entdeckt, dass in jener Stadt genauso viele Menschen wie Fernsehapparate existieren und dass zwischen ihnen eine sonderbare Verbindung besteht.


* * *

  Eugene Huxtable hat sein bisheriges Leben ausschließlich in Television City verbracht. Sein Äußeres ist unauffällig, sein Haar ist stumpf und dessen Farbe unbestimmbar. Eugenes Augen wirken müde, sein Körper ist saft- und kraftlos. Nur den Kopf reckt er stets krampfhaft nach vorn. Sein blasser Teint verleiht ihm ein ungesundes Aussehen und rührt wohl daher, dass er seit Jahren die Wohnung nicht mehr verlässt und der aufgehenden Sonne schon am frühen Morgen mittels dichter Gardinen den Zutritt verwehrt.
  Eugenes Tagesablauf ist immer gleich. Um acht Uhr steht er auf, weil dann die erste interessante Fernsehsendung beginnt. Nach sechzehn Stunden mannigfaltiger Unterhaltung, Politik und Sport, Quiz und Musik, Horror- und Trickfilmen, Nachrichten und Magazinen, Talkshows und Serien, Action und Science-Fiction, den aktuellen Koch- und Einkaufs-, Kultur- und Veranstaltungs-, Diät- und Schönheits-, Fitness- und Ernährungs-, Reise- und Freizeit-, Gesundheits- und Verbrauchertipps, Ratgebern in Sachen Recht und Straßenverkehr und jeder Menge Werbung ist er bestens über den letzten Modetrend und die jüngsten Verbrechen, die neuesten wissenschaftlichen Forschungsergebnisse, die Korruptionsvorwürfe gegen die Regierung, die Sexskandale der Filmstars und den bevorstehenden Krieg zwischen den Ländern X und Y informiert und kann beruhigt zu Bett gehen; denn alles, was in den folgenden acht fernsehfreien Stunden geschieht, wird er frisch aufbereitet in den Morgenmagazinen hören. So versäumt er nichts, rein gar nichts. Er weiß genau, was in der Welt passiert.
  Nun werden Sie sagen: »Der Mann muss doch mal ein paar Dinge erledigen, zum Beispiel Nahrungsmittel und Kleidung kaufen!«
  Obgleich es unglaublich erscheint - Eugene wird gut versorgt. Jeden Abend pünktlich um halb acht serviert man ihm ein warmes Mahl und gibt ihm seine Ration für Frühstück und Mittagessen sowie Gebäck für den Nachmittag. Hat er Extrawünsche, wie Wäschewaschen oder Saubermachen, braucht er Kaffee, Tee oder Gewürze, benötigt er neues Geschirr - kein Problem! Er heftet einfach eine Liste an die Tür. Die Artikel werden prompt am nächsten Tag geliefert und Dienstleistungen binnen zwei Tagen erbracht. Die Putzkolonne arbeitet zuverlässig, zügig und stumm. Kaum dass er ihre Anwesenheit überhaupt bemerkt, geschweige denn, dass sie ihn beim Fernsehen stört, ist seine Wohnung innerhalb einer Stunde so frei von Staub und Erregern wie ein vorbildliches Hospital. Am Zehnten eines jeden Monats erhält er den druckfrischen Versandhauskatalog und muss nur ankreuzen, was ihm gefällt - 48 Stunden später steht es für ihn bereit. Selbst Behördengänge werden Eugene abgenommen, ohne dass er sich dafür vom Sofa erheben muss.
  Bleibt schließlich die Frage, wer Hunderte von Mitarbeitern für eine so umfassende Kundenbetreuung beschäftigt. Na, haben Sie's erraten? Es ist natürlich die TV-Service-Union, die in Television City einen groß angelegten Feldversuch durchführt mit dem Ziel, das Fernsehprogramm perfekt dem Geschmack der Bevölkerung anzupassen. Darüber hinaus erforscht man den Einfluss von Werbespots auf das Kaufverhalten der Verbraucher. So werden die Einschaltquoten und die damit verbundenen Einnahmen weiter erhöht und das Medium Fernsehen samt seinen Nutzern total kontrolliert.
  Während unaufhörlich die Zeit verrinnt, fristet also der gläserne Zuschauer Eugene Huxtable sein Dasein zwischen Bett und Sessel jahraus, jahrein.


* * *

  Eines Tages wachte Eugene auf, ging wie gewohnt zur Flimmerkiste und schaltete sie ein, aber kein Bild erschien auf dem dunklen Schirm. Ungläubig überprüfte er Antenne und Steckdose, versuchte erneut, dem Gerät Leben einzuhauchen, doch der Fernseher blieb stumm wie ein Fisch und schwarz wie die Nacht. Eugene konnte gar nicht fassen, dass sein treuer Freund und Begleiter ihn im Stich gelassen hatte. In seiner Verzweiflung rannte er zum Telefon, als gelte es, ein Leben zu retten, und unterrichtete sofort die TV-Service-Union, die ihm daraufhin zusicherte, noch bis zum Abend ein Ersatzgerät bereitzustellen.
  Griesgrämig starrte Eugene auf den toten Kasten. Der Bildschirm war trüb wie ein gähnender Abgrund und Stille erfüllte den düsteren Raum. Träge und lustlos kaute Huxtable mindestens eine Stunde an dem Brötchen, das die TV-Service-Union geliefert hatte. (Komisch, dass er erst jetzt wahrnahm, dass das Frühstück einfach grässlich war! Der Kaffee war eine graue, bittere Brühe und das Brötchen ein bröckliges Etwas, dessen Einzelteile sich im Mund zu einer breiigen Masse vereinigten, die wirklich übel schmeckte und die hinunterzuschlucken Überwindung kostete.) Dabei richtete Eugene seinen leeren Blick unentwegt auf den Fernseher, als ließe sich der arbeitsmüde Gesell durch inständiges Bitten wenigstens zu einem Testbild erweichen.
  Dann trat Huxtable ans Fenster und zog vorsichtig den schweren Vorhang zurück, gerade so, als erwarte ihn Schreckliches dort draußen. Stattdessen lachte ihm die Sonne in sein aschfahles Gesicht. Geblendet von dem hellen Licht wandte er sich anfangs ab, schaute jedoch immer wieder hinaus. Er hatte fast vergessen, dass auch über Television City der Himmel blau und die Sonne gelb war.
  Langsam drang der Begriff »spazieren gehen« in sein Bewusstsein vor. War heute nicht der ideale Tag für einen kleinen Spaziergang? Eilig lief er zum Kleiderschrank, holte irgendetwas heraus, zog sich an und verließ seine Wohnung. Man konnte meinen, dass er befürchtete, die gesamte Außenwelt sei nur eine vorübergehende Erscheinung, die er schnell noch erhaschen müsse, bevor sie sich wieder verflüchtige.
  Als Eugene auf die Straße trat, empfing ihn eine herrliche Sommerlandschaft. Jedes Detail nahm er begeistert in sich auf: die riesigen dunkelgrünen Bäume, den azurblauen, wolkenlosen Himmel, die warme gelbe Sonne, die nach Blüten duftende Luft, die leichte Brise. Bequeme Bänke vor leuchtenden Blumenbeeten, in denen sich Schmetterlinge mit seidig glänzenden Flügeln tummelten, luden zum Verweilen ein. Es war einfach unbeschreiblich! Mit vor Staunen geweiteten Augen schlenderte er die Hauptstraße entlang und er genoss jeden Schritt. Die Eindrücke stürmten auf ihn ein: herzerfrischender Vogelgesang, das Raunen des Windes, das Flüstern der Blätter ...
  Anfangs bemerkte Eugene nicht, dass außer ihm niemand unterwegs war. Erst nach und nach nahm er es wahr. Leere Gassen, leere Plätze, leere Bänke. Je näher er der Innenstadt kam, desto offensichtlicher wurde die Verlassenheit des Ortes.
  Unversehens hielt er inne. Erinnerungen an seine Kindheit überwältigten ihn. Wie quicklebendig die Stadt einst gewesen war! Szenen des Glücks und des Leides, der Trauer und der Freude hatten damals die Straßen beherrscht. Heute hingegen schien der Ort nur mehr Kulisse zu sein, genauso fremd und unwirklich wie die Helden in Huxtables Lieblingsserie.
  In Gedanken versunken, lief Eugene durch die scheinbar tote Stadt. Grau und bedrohlich muteten ihn jetzt die Häuser an. Hinter all den dichten Gardinen hielten Bilder sendende Monster unzählige Seelen gefangen. Welch ein Segen, dass sein Fernseher den Geist aufgegeben hatte! Das Herz hüpfte ihm vor Erleichterung. Er fühlte sich wie eine ihrem Peiniger entflohene Geisel. Er war noch einmal glimpflich davongekommen, einem lebenslangen Gewahrsam entronnen. Der Bann war gebrochen, vorüber war die Knechtschaft! Nie wieder würde er fernsehen - das schwor er sich an diesem Tag.
  Da kam er an einer Buchhandlung vorbei. Er blieb stehen und blickte durch die trüben Fensterscheiben. Erneut wurden längst verschüttete Erinnerungen wach. Früher war er ständiger Gast gewesen bei Uncle Adam. (So nannten die Kinder seinerzeit den gutmütigen Geschäftsinhaber, der stets ein Tässchen Tee oder Kakao für sie bereithielt.) Eugene dachte an die schweren Bücher, die er und viele andere damals für den Literaturunterricht hatten lesen müssen. Oftmals hatten sie sich dann beim Büchernarren Uncle Adam versammelt, der die öde Pflichtlektüre anregend darbot und seine kleinen Gäste mit Kakao und Naschwerk verköstigte. Meist hatte er danach eines seiner (erlebten oder erfundenen) Abenteuer zum Besten gegeben, und zum Schluss, wenn es draußen langsam dämmerte, von Geistern und Vampiren und allerlei grausigen Dingen berichtet. Dabei hatten seine schwarzen Augen wie zwei Stück Kohle gefunkelt und sein grau meliertes Haar im eigens zu diesem Zweck entfachten Kerzenlicht silbern geschimmert.
  Als all diese Bilder aus vergangenen Zeiten vor Eugenes innerem Auge abliefen gleich einem alten Hollywood-Streifen, wurde er einer Person gewahr, die in Uncle Adams Laden an den drei Meter hohen Regalen in gebückter Haltung entlangschlich. Sollte der Alte mit dem schlohweißen Haar wirklich Uncle Adam sein? Mit der Faust pochte Eugene an das Schaufenster.
  Gemächlich trottete die Gestalt mit gesenktem Kopf zur Eingangstür und drehte den Schlüssel im Schloss.
  »Uncle Adam, bist du es?«, rief Eugene. Er traute seinen Augen kaum. Er war es!
  In der Tat, das war Uncle Adam! Ein abgemagerter Mann, unrasiert und zerlumpt, mit schütterem, ungepflegtem Haar, schadhaften, gelben Zähnen und einem Gesicht so faltig wie ein Stück Papier, das man zerknüllt in den Abfallkorb geworfen, wieder herausgefischt und geglättet und dann von neuem zerknittert hat. Lediglich seine Augen hatten den ehemaligen Glanz bewahrt, so wild und entschlossen wie in Eugenes Kindheit.
  »Ich bin's, Eugene Huxtable!«, rief er und breitete die Arme aus, als hätte er zwanzig Jahre lang auf diesen Moment gewartet.
  »Huxtable - hm! - Huxtable -«, murmelte der Greis. Er versuchte verzweifelt, sich an den Namen zu erinnern. Doch in zwanzig Jahren vergisst man viel, und wenn man in diesen zwanzig Jahren alt geworden ist, vergisst man noch viel mehr.
  »Tut mir leid, Mister!«, brummelte Uncle Adam mit brüchiger Stimme. »Ich weiß nicht, wer Sie sind. Nun, da Sie schon mal hier sind, kommen Sie nur rein.« Und er machte eine Handbewegung, die nicht gerade einladend wirkte.
  Eugene trat in den Laden. Heute roch es nicht nach Kakao. Außerdem wurde seine Wiedersehensfreude durch Uncle Adams Vergesslichkeit etwas getrübt. Der Alte stützte sich unterdessen auf einen klapprigen Stuhl. Eugene sah seine Hände zittern. Wie hatte er sich verändert! Wo war der stolze Mann geblieben, den er aus verflossenen Tagen kannte? Der Greis betrachtete seinen Gast mit Augen, aus denen Verbitterung und Einsamkeit sprach. Dass ihn nach so vielen Jahren noch einmal jemand besuchte, war wie ein Wunder für ihn.
  Schließlich schlurfte Uncle Adam in ein kleines Hinterzimmer und verschwand dort für etwa eine Viertelstunde. Eugene schritt indessen die schier endlosen Reihen aufgestapelter alter Bücher ab, die genauso verlassen und verloren wirkten wie ihr Besitzer. Dann knarrte die Tür und der Greis kam zurück in das Geschäft, in jeder seiner gichtigen Hände eine Tasse Tee haltend.
  »Was für ein Trubel war früher in diesem Ort! Und jetzt ist alles wie ausgestorben. Keiner lässt sich mehr blicken«, jammerte Uncle Adam. »Was ist nur aus unserer Stadt geworden? Die Parkanlagen sind von Unkraut überwuchert, die Straßen sind leer, die Plätze öde und verkommen. Wo sind bloß all die Menschen? Warum hocken sie ständig vor diesen unseligen Fernsehern? Keiner, der Musik macht; keiner, der Gedichte schreibt. Die Leute reden ja kaum miteinander, und wenn schon, dann höchstens übers Fernsehprogramm. Ist das nicht eine triste Welt?« Betrübt ließ er den Kopf hängen und Tränen quollen aus seinen traurigen schwarzen Augen.
  Eugene trank von dem vorzüglichen Tee. Er genoss jeden Schluck und hörte dem Monolog des Alten aufmerksam zu. Ein Gespräch konnte sich jedoch nicht so recht entwickeln, denn beide berichteten sie von Vergangenem - der Greis, in Nostalgie versunken, und der junge Mann wie jemand, der aus einem Dornröschenschlaf erwacht war.
  Inzwischen war es spät geworden und es dämmerte bereits. Eugene konnte seinen Magen nicht länger mit Tee und Gebäck besänftigen; also machte er sich auf den Heimweg. An der Tür fasste Uncle Adam ihn am Arm.
  »Es wäre schön, wenn du mich mal wieder besuchst«, sagte er zum Abschied und sein zerfurchtes Gesicht war von einem Bitten, ja Flehen gezeichnet.
  »Ich komme bald«, versprach Eugene und trat hinaus auf die Straße.
  Die Nacht brach unbarmherzig herein und senkte ihre kühlen schwarzen Schatten über Television City.


* * *

  An jenem Abend blieb Eugenes Fernseher ausgeschaltet, obwohl die TV-Service-Union das Ersatzgerät wie vereinbart geliefert hatte. Eine Mischung aus Wehmut und Zorn bewegte Huxtable und verdarb ihm zudem den Appetit. Hastig schlang er die fade Durchhaltenahrung hinunter, um sich den knurrenden Magen zu füllen. Mit dem Vorsatz, nie mehr fernzusehen und sein Leben grundlegend zu ändern - sei es ein Aufstand gegen den Rest der Welt! -, ging er zu Bett, und müde geworden von all den Eindrücken, schlief er sofort ein.


* * *

  Als Eugene am folgenden Morgen erwachte, war es sein sehnlichster Wunsch, wie am Vortag spazieren zu gehen. Doch ein Blick aus dem Fenster genügte, ihm die Freude an der Natur zu vergällen. Ein auf die Straßen niederprasselnder Regen, der wie eine zweite Sintflut anmutete, lähmte jäh seinen Tatendrang. So konnte er getrost erst mal in Ruhe frühstücken. Sicherlich würde der Schauer bald nachlassen. Aber auch zwei Stunden später goss es in Strömen und eine Stunde darauf noch heftiger als zuvor, so dass sich die Gassen fast in Bäche verwandelten. Dies war kein Wetter für einen fröhlichen Bummel, und Eugene wollte sich, wenn es nicht nötig war, keine nassen Füße holen. Also musste der Spaziergang verschoben werden und Uncle Adam eben bis morgen warten. So viel Zeit hatte Eugene schon zu Hause vergeudet! Kam es da auf einen weiteren Tag an?
  Just in dem Moment, als Huxtable beschloss daheimzubleiben, erhob sich natürlich die Frage, was tun. Alle Arbeiten wurden von der TV-Service-Union erledigt, und in den knapp zehn Jahren, die er jenes fern(seh)gesteuerte Dasein führte, hatte er verlernt, wie man sich sinnvoll beschäftigt. Daher warf er sämtliche guten Vorsätze mit einem Tastendruck über den Haufen.


* * *

  Der gerade geschilderte Sommertag, an dem sich Eugenes kleiner Ausflug in die Freiheit ereignete, liegt nun gut fünf Jahre zurück. Wohl flackerte ab und an in Huxtable der Wunsch auf, sein Leben zu ändern, besonders wenn die Sonne mit ihrem freundlichen Licht zum Ausgehen verlockte. Dieses Aufbegehren währte allerdings meist nur einige Sekunden und ausschließlich in den Werbepausen. Deshalb gab es keinen Tag mehr wie jenen im Sommer und Uncle Adam wartete vergebens auf den versprochenen Besuch.
  Die Gardinen vor Eugenes Fenstern sind jetzt wieder zugezogen, denn mit der Zeit stört das einfallende Licht beim Fernsehen doch sehr. Uncle Adam ist seit einem Jahr tot, Eugene aber hat das nicht bemerkt. Er ist abgetaucht in die mediale Welt ganz so wie früher, und von Tag zu Tag schwinden die Chancen auf einen Wandel in seinem Leben.

  Wenn Sie nicht wie Eugene Huxtable zum Sklaven Ihres Fernsehgerätes werden wollen, dann gehen Sie mal ins Theater oder in die Oper, ins Museum oder auf eine Vernissage. Schreiben Sie Gedichte! Komponieren Sie Lieder! Treiben Sie Sport, falls Sie glauben, Sie tun Ihrem Körper damit etwas Gutes!
  Und - Hand aufs Herz! - was haben Sie heute Abend vor? Was? Sie möchten wissen, welchen Kulturgenuss ich auskoste? Na ja! Wenn ich es mir so recht überlege - also, wenn ich ehrlich bin - hm! - nun, Sie werden mir verzeihen, wenn Sie wissen, was ich meine - ich sehe heute Abend fern.

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