Tabaka Derby Messer's Gesammelte Horrorgeschichten - Band I
Siebzehn Gruselgeschichten       ©  2005  Heike Hilpert, Selbstverlag
 Titel
 Vorwort
 Inhalt
 Der Mann mit dem Messer
 Das Gespensterschloss
 In Trance
 Der untrügliche Beweis
 Eine ungewöhnliche Hochzeitsnacht
 Der Whiskyvampir
 Spieglein, Spieglein an der Wand
 Die Sterne lügen nicht
 Blumen für Mr Carmichael
 Der Schlüssel
 Ein eleganter Pelz
 Maskerade
 Das Bauopfer
 Das Leben nach dem Tode
 Television City
 Der Vegetarier
 Im Schatten
 Information zur Autorin
 Literaturhinweis
 Impressum
Das Bauopfer

  Ein Umzug verändert das Leben von Grund auf. In einer neuen Stadt mit neuen Nachbarn, neuen Bekannten, neuen Freunden schreitet man unsicher und voller Wehmut die unbekannten Straßen ab. Wo ist der fröhliche Bäcker geblieben, der frühmorgens die Brötchen parat hatte, wo der nette Schuhverkäufer, der die gewünschte Größe schon kannte, wo die Apothekerin, die sich stets nach den Befindlichkeiten erkundigte? Sentimental blickt man auf den vorigen Wohnort zurück.
  Irgendwann passt man sich freilich jeder Umgebung an, doch sollte man sich vorher genau überlegen, wo man sich häuslich niederlässt, denn nicht alles, was auf den ersten Blick ideal erscheint, hält auch, was es verspricht. In der nun folgenden Geschichte fällt die Wahl eines Ehepaares beispielsweise auf ein hübsches Heim, wo sich jedoch kein rechtes Wohlgefühl einstellen will.

  »Sie sehen, die Wohnung ist wunderbar. Sie liegt ziemlich zentral und ist sehr preiswert. Die Zimmer sind beinahe herrschaftlich. Küche und Bad sind modern ausgestattet. Die Fenster sind groß, so dass die Räume von Sonnenlicht durchflutet werden. Betrachten Sie die gewaltigen Stuckdecken! Ist es nicht eine Pracht? Dazu das hervorragende Parkett. Und denken Sie an den riesigen Balkon! Dieser Ausblick! Man schaut ja direkt ins Grüne und ist doch kaum zehn Minuten von der Innenstadt entfernt. Sie sollten wirklich zugreifen, denn so ein Angebot bekommen Sie nicht jeden Tag.« Die Immobilienmaklerin rückte keck ihre Brille zurecht und trommelte siegesgewiss mit dem Kugelschreiber auf ihren Notizblock.
  »Nun ja!« Violet Slater atmete noch einmal tief durch und Cedric nickte ihr zustimmend zu. »Wir nehmen sie.«


* * *

  Zwei Monate später hatten die Slaters ihre neue Wohnung vollends eingerichtet.
  »Wir haben einen guten Griff getan«, bemerkte Violet mit einem Seufzer der Erleichterung und kuschelte sich, zusammengerollt wie eine Katze, in den bequemen Ohrensessel.
  »Ja«, pflichtete Cedric ihr bei. »Hier können wir es uns richtig gemütlich machen.« Genüsslich schmauchte er seine Pfeife und streckte zufrieden die Beine auf der Ottomane aus.
  Behaglich knisterte das Holz im Kamin, die Flammen loderten auf und züngelten gierig zwischen den dürren Zweigen. Sie sorgten für wohlige Wärme und ein angenehm gedämpftes Licht.
  Cedric liebte es, Violet anzuschauen, wenn sie so dämmerte, die unergründlichen, dunkelgrünen Augen geschlossen, Arme und Beine verschlungen, in dem alten Ohrensessel vor sich hin träumend. Ihr ovales Gesicht sah stets bleich und leblos aus, wenn das Feuer es beleuchtete. Ihr Kopf saß auf einem Schwanenhals wie die Blüte einer langstieligen Blume und ihr kastanienbraunes Haar schimmerte weinrot im flackernden Schein. Wenn sie dann ganz unverhofft die runden Augen aufschlug, ihre Nasenflügel durch das kräftige Einatmen bebten und die blassen, schmalen Lippen wie elektrisiert zuckten, erschrak Cedric fast, sein Herz klopfte ein bisschen schneller und ihm war, als hätte eine übernatürliche Macht einer Puppe Leben eingehaucht, und dies alles kam ihm so irreal vor, dass er über sich selbst schwach lächeln musste. Dann lächelte sie zurück, doch weniger mit dem Mund, mehr mit ihren rätselhaften Augen.
  Cedric übte indessen auf Violet ebenfalls einen sonderbaren Reiz aus. Sie mochte eigentlich keine großen, spindeldürren Männer, und es nervte sie, stets zu ihm emporblicken zu müssen. Außerdem fand sie es unschön, dass er sein ohnehin nur spärliches Haar mit Pomade am Kopf festklebte, wodurch es noch dünner wirkte. Obendrein war das doch unmodern! Cedrics hellgraue Augen blickten immer kalt, seine Haut fühlte sich an wie Leder und seine Finger knackten oft hohl, und wenn sie Spinnenbeinen gleich über ihren Körper krochen, erschauerte Violet. Am meisten aber hasste sie seine Vorliebe für Meerschaumpfeifen. Diese waren überall in der Wohnung verstreut, denn für ihn als leidenschaftlichen Raucher mussten sie stets griffbereit sein. Bei jeder Gelegenheit und in jeder freien Minute war der Tabak Cedrics Begleiter; sogar im Bett rauchte er. Das war ungesund, gefährlich und stank entsetzlich! Geradezu komisch war jedoch der Pfeifenschrank, den er hütete wie einen Gral und dementsprechend beleuchtete. Manchmal hätte Violet ihn mitsamt seinen Pfeifen im wahrsten Sinne des Wortes zum Teufel schicken mögen, denn sie konnte sich den Höllenfürsten nicht anders vorstellen als so: vor dem Feuer sitzend, den Pferdefuß ausstreckend und genießerisch seine Pfeife rauchend. Aber da schwang etwas Besonderes in Cedrics melodisch dunkler Stimme mit. War es der sonore Klang, wenn er erzählte, oder war es die samtige Nuance, wenn er ihr vertrauliche Dinge ins Ohr hauchte? Sie wusste es nicht.
  So fühlten sich beide gleichermaßen auf eigenartige Weise zueinander hingezogen.


* * *

  Es war an einem Montag kurz nach dem Umzug, als Violet zum ersten Mal bemerkte, dass mit der neuen Wohnung etwas nicht in Ordnung war. Von der Arbeit erschöpft, öffnete sie die Tür, stellte die Taschen ab und trat ein. Sie legte ihren Mantel ab. Irgendwas stimmte nicht. Da lag ein dumpfer Geruch in der Luft, der sie benebelte. Ihre Augen tränten und ihre Schläfenadern vibrierten so heftig, dass sie meinte, ihr Kopf müsse bald zerspringen.
  Nun drehte sich ein Schlüssel im Türschloss und Cedric stürmte freudestrahlend in die Diele.
  »Schau mal, was ich alles mitgebracht habe! Bis Freitag brauchst du nichts mehr einzukaufen.« Laut pustend ließ er die Taschen auf den Boden purzeln.
  »Du sollst doch nicht immer so viel hamstern!«, tadelte Violet mit dem Ausdruck der Verzweiflung. »Was du Vorrat nennst, landet meist im Mülleimer, weil es eher verdirbt, als dass ich Zeit finde, es zu kochen. - Aber sag mal, merkst du denn gar nicht, wie es hier riecht?«
  »Doch!«, bejahte Cedric nach einigem Zögern. Dann rümpfte er unwillkürlich die Nase, so wie man sich kratzt, wenn man jemand von Flöhen reden hört. Unbekümmert ging er zur Tagesordnung über. »Wie wär's mal wieder mit einem Theaterbesuch? Ich konnte gerade noch die letzten beiden Karten für die heutige Abendvorstellung ergattern. Du weißt ja, wenn ein neues Stück von diesem Wilson anläuft -«
  »Billson«, verbesserte sie ihn.
  »... also diesem Wilson -«
  »Billson!«, unterbrach sie ihn gereizt.
  »... Hillson - na, du weißt schon ...«
  Violet seufzte entnervt und verdrehte die Augen. Wahrscheinlich machte er das mit Absicht.
  »Jedenfalls stehen die Leute wie verrückt nach den Karten an«, meinte Cedric schließlich.
  »Der Mann heißt Billson und zufällig ist er begabt«, stellte Violet klar.
  »Dieses letzte Stück - ich meine das mit dem Sensenmann - fand ich ganz lustig«, warf Cedric ein.
  »Das war nicht lustig, sondern sozialkritisch«, belehrte sie ihn.
  »Dann habe ich's eben nicht verstanden. Gefallen hat's mir trotzdem.«
  Während Cedric alle Lebensmittel lässig in den Kühlschrank räumte, bemerkte er nebenbei: »Der Geruch kommt sicherlich von der frischen Farbe oder den Tapeten. Wir müssen nur viel lüften, dann hört es mit der Zeit schon auf.«
  Violet stand noch immer benommen im Flur. So ging Cedric in die einzelnen Zimmer und öffnete die Fenster.


* * *

  Wochen waren seit jenem Tag verstrichen, doch der sonderbare Geruch wollte nicht weichen. Allmählich verdross dies Violet, denn es war weder angenehm, im Spätherbst stundenlang bei offenem Fenster dazusitzen, noch konnte sie sich an die stechenden Kopfschmerzen gewöhnen, die sie nun jeden Abend plagten. In Anbetracht der Tatsachen ist es leicht nachzufühlen, dass bei den Slaters in der neuen Wohnung keine rechte Freude aufkam.
  »Dieser widerliche Gestank macht mich wahnsinnig!«, jammerte Violet eines Abends. »Was kann man bloß dagegen tun?«
  »Ich fürchte, nichts«, nahm Cedric ihr jede Hoffnung.
  »Wenn wir wenigstens wüssten, welche Ursache es hat!«, schimpfte sie verzweifelt.
  »Du bist aber auch nie zufrieden!«, wies er sie zurecht. »In das Apartment wolltest du nicht ziehen, weil es dir zu unpersönlich war. Das Penthouse war zu modern und hatte kein Flair. Das Mietshaus lag zu nahe an der Hauptstraße, die Villa zu weit außerhalb. Jetzt hast du endlich eine anheimelnde Wohnung mit allem Komfort und einer gewissen ›Atmosphäre‹. Da fällt dir plötzlich ein, dass es zu modrig riecht. Sag mal, weißt du eigentlich, was du willst?«
  Violet, gekränkt durch seine barsche Reaktion und seinen Mangel an Mitgefühl, schrie ihn an: »Und hast du überhaupt eine Nase?«
  »Alte Wände riechen eben so!«, herrschte er sie an.
  »Es ist dir wohl egal, ob ich leide, was?«, entgegnete sie schroff, rauschte aus dem Zimmer und schlug mit einem Knall die Tür hinter sich zu.


* * *

  In den folgenden Tagen brach ein regelrechter Kleinkrieg zwischen den Slaters aus. Ihn störte ihre unablässige Nörgelei und sie bezichtigte ihn, mit dem Pfeifentabak den unerträglichen Geruch herbeizuführen. Kurz gesagt, der Haussegen hing schief.
  Nichtsdestotrotz stank es weiter immerzu und von Tag zu Tag mehr. Schließlich beschwerte sich Violet bei der Immobilienmaklerin. Diese zeigte jedoch keinerlei Interesse, während ihr gestresster Blick ungeduldig zwischen ihrem Gegenüber und der schmucken Armbanduhr pendelte. Sie quittierte die Angelegenheit teilnahmslos mit einem Achselzucken und riet Violet, sich mit dem Vorbesitzer in Verbindung zu setzen. Dann wies sie ihr die Tür mit der Bemerkung, sie habe wirklich andere Dinge zu tun und für etwaige Düfte sei sie sowieso nicht zuständig.
  Wieder zu Hause, ließ Violet sich niedergeschlagen in ihren Ohrensessel fallen.


* * *

  »Die Wohnung hat sich als wahrer Fehlgriff entpuppt. Zumindest wissen wir nun, warum sie so günstig war«, spottete Cedric bitter.
  »Meinst du nicht auch, dass der Geruch auf etwas beruhen muss, was wir bisher noch nicht in Betracht gezogen haben?«, fragte Violet hoffnungsvoll.
  »Vom Tapezieren kommt es keinesfalls«, konstatierte Cedric, »und vom Pfeifenrauchen ebenso wenig«, fügte er schnell hinzu.
  »Nein«, stimmte sie ihm uneingeschränkt zu. »Es hat eine zu seltsame, modrige Note.«
  »Und obwohl der Gestank in alle Räume dringt, ist er doch im Schlafzimmer am stärksten«, stellte Cedric fest.
  »Weißt du was, wir werden mal bei den Nachbarn nachfragen«, schlug Violet vor. »Vielleicht können sie uns eine Auskunft beziehungsweise einen Rat geben.«
  »Ja, das ist eine gute Idee!«, freute sich Cedric.
  Ihrer beider Erwartungen sollten sich allerdings nicht erfüllen, denn keiner der anderen Wohnungseigentümer hatte je etwas Derartiges selbst erlebt oder davon gehört. Demzufolge wollte ihnen freilich niemand glauben. Als die Nachbarn dann gemeinsam mit den Slaters deren Wohnung betraten, rümpften sie die Nase allesamt.
  Mrs Anderson vom zweiten Stock rief entsetzt: »Das riecht ja wie Friedhof!«, und ergriff sofort die Flucht. Die übrigen Besucher wandten sich angewidert ab.
  Stunden später saßen Cedric und Violet ratlos am Kamin. Er entspannte sich bei einem Pfeifchen, das wenigstens für kurze Zeit den lästigen Geruch an Stärke übertraf. Sie vertrieb die unguten Gefühle, indem sie ihre Gedanken schweifen ließ, und ihre Blicke gaukelten abwesend und rastlos umher.


* * *

  Kann sein, dass sogar Sie, mein hochverehrter Leser, schon einmal unentschlossen vor einer wichtigen Entscheidung standen und in Ihrer Verzweiflung das Tarot zu Rate zogen. So braucht es Sie nicht zu wundern, dass Violet und Cedric in ihrer aussichtslosen Lage zum letzten Mittel griffen - Simon Simmons, dem selbst ernannten Fachmann für unerklärliche Phänomene.
  Der Experte fürs Übersinnliche fuhr mit seinem Wagen bei den Slaters vor. Dieses Auto erregte in der Kleinstadt freilich großes Aufsehen, weil es mit kuriosen Werbetexten, wie »Simmons vertreibt Dämonen«, »Simmons spricht mit den Toten« und »Ufos - bald auch in Ihrer Nähe«, beschriftet war.
  (Da fragten sich die Leute natürlich, was ihre neuen Nachbarn mit dem verdächtigen Mann zu schaffen hatten. »Mir waren die zwei schrägen Vögel da drüben von Anfang an nicht geheuer!«, keifte zum Beispiel Mrs Anderson, während sie sorgfältig ihre Lockenwickler zurechtrückte.)
  Simmons schleppte seine Instrumente sogleich in die Wohnung der Slaters, die nach und nach den Charme eines Schrottplatzes annahm. Der kleine, stämmige Mann mit der großen Höckernase bewegte sich nur im Zeitlupentempo und sprach kaum ein Wort. Anscheinend interessierte er sich mehr für das Problem selbst als für seine Kunden; daher wirkte er nicht wie ein Wissenschaftler oder Berater, sondern eher wie ein Besessener. Eine Stunde lang ging er unermüdlich mit der Wünschelrute im Schlafzimmer auf und ab. Dann hielt er plötzlich inne, drehte sich abrupt um und sah die Slaters mit matten Augen an.
  »Was ist es?«, fragte Cedric ungeduldig.
  »Es geht von dort aus«, orakelte Simmons und deutete auf die Wand hinterm Kopfende des Ehebettes. Seine Hände schnellten abwehrend in die Höhe. »Ein Verbrechen wurde verübt!«, redete er wie in Trance und seine Stimme bebte.
  »Was für ein Verbrechen?!«, fuhr Cedric ihn an. »Wir haben jedenfalls keins begangen.«
  »Ich weiß es nicht«, erklärte Simmons kühl. »Ich halte es hier keine Sekunde länger aus!«, stellte der Fachmann unvermittelt fest.
  Von einem heftigen Schweißausbruch begleitet, der wohl von einer unbestimmten Angst ausgelöst wurde, sammelte Simmons flugs all seine Gerätschaften ein und verließ fluchtartig die Wohnung.
  »Was sollen wir denn jetzt tun?«, rief Cedric dem Rutengänger im Treppenhaus hinterher.
  »Gehen Sie zu Albert Ryder!«
  »Aber Simmons, Ihr Honorar!«, schrie Cedric. Polternd rannte er die zahllosen Stufen hinab, seine Schritte hallten von den Mauern wider. Schon fiel quietschend die Tür ins Schloss, und als Cedric auf die Straße trat, war von Simmons weit und breit nichts mehr zu sehen.
  »Ein schnurriger Kauz, dieser Simmons!«, bemerkte Violet.
  »Ich würde eher sagen, ein Scharlatan!«, verbesserte Cedric.
  »Das glaube ich nicht«, erwiderte sie. »Wenn er ein Scharlatan ist, warum hat er dann nicht mal sein Entgelt genommen?«
  »Das frage ich mich allerdings auch«, gab Cedric zu.
  »Vielleicht erfahren wir ja etwas von jenem Albert Ryder«, hoffte Violet.
  »Wenn der uns nicht ebenso vertröstet oder die Nerven verliert wie dieser Simmons«, zweifelte Cedric.


* * *

  Am darauffolgenden Tag suchten die Slaters Albert Ryder auf, der in einem halb verfallenen Haus am Rand der Stadt wohnte. Als es an seiner Tür läutete, lugte der Alte misstrauisch durch die Gardinen.
  »Was wollen Sie?«, rief er mit brüchiger Stimme.
  »Sie wurden uns von Simon Simmons empfohlen«, antwortete Violet brav, denn der durchdringende Blick des Greises flößte ihr Respekt ein. »Wir haben da ein kleines - nein - eigentlich ein großes Problem«, berichtigte sie sofort, als sie sah, dass das Interesse aus seinen lauernden Augen wich.
  »Jaja, so ist das!«, murmelte der Alte selbstgefällig. »Erst lachen sie über mich und sagen, ich sei verrückt, aber wenn sie ein Problem haben und niemand ihnen helfen kann« - er machte eine bedeutungsvolle Pause und grinste verhohlen -, »dann kommen sie zu mir, dem alten Ryder! Haha! Ist das nicht komisch?«
  Violet und Cedric sahen einander enttäuscht an.
  »Der ist doch bereits senil!«, zischte Cedric missmutig und gehässig.
  »Ich mag zwar senil sein, aber hören kann ich noch ganz gut«, entgegnete der Alte mürrisch.
  Erschrocken wendeten die Slaters den Kopf.
  »Kommen Sie nur herein!«, forderte Ryder sie auf. »Bei einer Tasse Tee lässt sich alles besser besprechen.«


* * *

  »Was Sie da berichtet haben, ist mir nichts Neues«, entzauberte Ryder das scheinbar unergründliche Rätsel. Sein dünnes, eisgraues Haar hing ungepflegt in die Stirn und die buschigen weißen Brauen verliehen den aufgeweckten schwarzen Augen einen strengen Ausdruck. »Die Wohnung ist in den letzten paar Jahren bestimmt fünfmal weiterverkauft worden. Lange hält's dort keiner aus.«
  »Und woher rührt der Geruch?«, warf Cedric ungeduldig ein. Violet versetzte ihm einen Rippenstoß.
  »Wenn Sie es erst mal wissen, werden Sie sich in Ihren vier Wänden unwohler denn je fühlen. Hahaha!«, lachte Ryder rau. »Sie haben sicher schon von Bauopfern gehört.«
  »Bauopfer?!«, flüsterte Violet schaudernd.
  »Ich möchte Ihnen etwas zeigen«, sagte der Greis, entfernte sich und verschwand in einem Hinterzimmer. Nach einigen Minuten kam er mit einem Stapel Zeitungen zurück. »Fast hundert Jahre sind die alt«, erklärte er stolz. »Einer meiner Vorfahren arbeitete als Reporter. Er war ein paar Monate hinter einer heißen Story her. Dabei handelte es sich um den Fall Arthur Carrington, der seinerzeit für Wirbel sorgte. Doch lesen Sie selbst!«
  Eine Stunde lang suchten die Slaters nach Hinweisen in den vergilbten Blättern, bis sie fündig wurden.
  »Arthur Carrington senior gab den Bau eines Hauses auf seinem Grundstück in Auftrag. Irgendwann, als die Arbeiten in vollem Gange waren, wurde sein Sohn Arthur Carrington junior entführt und seitdem nie wieder gesehen«, fasste Violet zusammen. »Und was hat das mit unserem Problem zu tun?«
  »Mir scheint, Sie haben das Wichtigste überlesen, meine liebe Mrs Slater«, ermahnte sie der Greis und er lachte leise. »Der alte Carrington forderte von dem Baumeister die Errichtung eines Hauses, das hundert Jahre stehen, nie verfallen und von allem Übel, wie beispielsweise Brandstiftung oder Naturkatastrophen, verschont bleiben sollte. - Meinen Sie nicht auch, dass das Haus, in dem Sie wohnen, ein bisschen zu frisch aussieht, wenn man bedenkt, dass es nie renoviert wurde?«
  Die Slaters starrten ihn mit weit aufgerissenen Augen an.
  »Es war nur eine Vermutung meines Ahnen, aber ein Einzelfall wäre es beileibe nicht.« Mit diesen Worten wandte sich Ryder ab, setzte sich in seinen Sessel und nahm ein Buch zur Hand.
  »Was sollen wir denn jetzt tun?«, erbat Violet verzweifelt seinen Rat.
  »Ein sehr interessantes Buch, Mrs Slater!«, entgegnete der Alte. »Es handelt von verborgenen Energien und Kraftfeldern -«
  »Mr Ryder«, unterbrach sie ihn, »was wird nun mit unserer Wohnung?«
  »Vielleicht können wir eines Tages durch Verdichtung der Gedanken und die Macht des menschlichen Bewusstseins eine neue und unerschöpfliche Energiequelle erzeugen«, quasselte der Greis weiter, bereits in die verworrenen Theorien des Buches versunken.
  »Ach!« Violet rannen die Tränen über die Wangen.
  »Für ihn ist die Sache erledigt«, beruhigte Cedric seine Frau und fasste sie sanft am Arm. »Lass uns gehen!«
  Später dann, als die Slaters am Kaminfeuer saßen, fragte Violet ihren Gatten: »Was hältst du von der Bauopfer-Story?«
  »Ich weiß nicht«, meinte Cedric. »Jedenfalls habe ich mich selten so gegruselt.«


* * *

  Kurzfristig hatten die Slaters Urlaub genommen und waren für einige Tage weggefahren, um nicht fortwährend den üblen Geruch erdulden und nicht die ganze Zeit an die grässliche Geschichte denken zu müssen, die sie bei Albert Ryder in Erfahrung gebracht hatten.
  Als sie am ersten Abend nach ihrer Rückkunft das Schlafzimmer betraten, bemerkten sie, dass die Tapete hinter dem Kopfende ihres Bettes ziemlich schäbig aussah. Bei genauerer Betrachtung zeigte sich, dass ein großer Teil davon beinahe lose herunterhing beziehungsweise abblätterte.
  »Wir müssen das frisch tapezieren lassen«, legte Cedric fest.
  »Ich werde morgen den Maler anrufen und mich beschweren. Es ist unerhört«, empörte sich Violet, »dass uns nach den paar Wochen bereits die Wandverkleidung auf den Kopf fällt.«


* * *

  Zwei Wochen später - die Slaters hatten gerade den Leimgeruch aus dem Raum verbannt - begann der Spuk von vorn. Als Cedric eines Mittags die Tür öffnete, war die neue Tapete vollständig abgerutscht.
  »Das geht nicht mit rechten Dingen zu!«, hauchte Violet leise, so als befürchte sie, von den Mauern belauscht zu werden.
  »Anscheinend liegt es weder an der Tapete noch am Maler. Es müssen vielmehr die Wände selbst sein. Uns bleibt nichts anderes übrig, als sie mit Farbe anzustreichen«, bestimmte Cedric.
  Gesagt, getan. Doch nach einer Woche schon fing der Putz zu bröckeln an. Violet kehrte täglich eine kleine Schaufel voll Mörtel zusammen.
  »Wenn das so weitergeht, stürzt noch die Decke ein«, prophezeite Cedric.


* * *

  Ein gellender Schrei riss Cedric am folgenden Morgen aus dem Schlaf. Er fuhr auf und sah Violet vor sich auf dem Bett hocken. Sie starrte wie gebannt auf die hinter ihm befindliche Wand und in ihren Augen spiegelte sich das blanke Entsetzen wider.
  Schreckliches ahnend, drehte er langsam den Kopf. Aber der Anblick, der sich ihm da bot, übertraf seine schlimmsten Erwartungen. Die Mauer lag bloß und zwischen den nackten Ziegeln klebte ein Skelett mit schauderhaft verrenkten Gliedern. Es war ein Bild des Grauens.


* * *

  Zwei Stunden später huschten Polizisten dienstbeflissen durch die Wohnung der Slaters, krochen flink auf dem Boden herum, untersuchten eifrig das Schlafgemach. Ein Arzt nahm die Gebeine des Bauopfers genauer unter die Lupe und entfernte zwecks späterer Analyse Proben des Knochengerüstes.
  »Wissen Sie etwas Näheres über den Fall?«, wandte sich nun der Kommissar an Violet.
  »Sie fragen am besten Albert Ryder. Der weiß alles.«
  »Ryder? Ist der nicht ein bisschen - ?«
  »Sie meinen - verrückt!«, lächelte Violet gequält. »Mir kommt er gar nicht mehr verrückt vor. Ryder wird Ihnen bestimmt gern einiges über das Verschwinden von Arthur Carrington junior erzählen.«
  »Arthur Carrington junior?« Der Kommissar zog die Augenbrauen hoch. »Vielleicht sollte ich diesem Ryder nachher mal einen Besuch abstatten«, beschloss er rasch.


* * *

  Am nächsten Morgen bugsieren zwei angeheiterte Muskelmänner das Bauopfer durch das Haus hinunter zum Leichenwagen, wobei sie torkelnd Witze reißen und bei jedem Treppenabsatz mit dem Sarg anecken. Violet und Cedric begleiten Arthur Carrington junior auf seinem Weg zum Friedhof.
  »Übermorgen wird er beerdigt«, verspricht ihnen dort der Verwalter des Kirchhofs.
  »Dann wird er endlich in Frieden ruhen, der arme Kerl«, hofft Cedric.
  Kurz darauf nehmen die Slaters ein Taxi, um zu ihrer Wohnung zurückzukehren.
  Sirenen heulen, als der Wagen sich seinem Ziel nähert. Schreie verzweifelter Menschen hallen durch die Straßen. Polizei, Sanitäter und ein Rettungstrupp laufen um die Wette. Und wo noch vor Stunden das stolze Haus stand, ist nur mehr ein rauchender Berg von Asche, Schutt, Mauern, Möbeln und Toten geblieben.

 TOP 
Alle Rechte vorbehalten.       ©  2005  Tabaka Derby Messer
www.gruselgeschichten-online.de