Tabaka Derby Messer's Gesammelte Horrorgeschichten - Band I
Siebzehn Gruselgeschichten       ©  2005  Heike Hilpert, Selbstverlag
 Titel
 Vorwort
 Inhalt
 Der Mann mit dem Messer
 Das Gespensterschloss
 In Trance
 Der untrügliche Beweis
 Eine ungewöhnliche Hochzeitsnacht
 Der Whiskyvampir
 Spieglein, Spieglein an der Wand
 Die Sterne lügen nicht
 Blumen für Mr Carmichael
 Der Schlüssel
 Ein eleganter Pelz
 Maskerade
 Das Bauopfer
 Das Leben nach dem Tode
 Television City
 Der Vegetarier
 Im Schatten
 Information zur Autorin
 Literaturhinweis
 Impressum
In Trance

  Wer kein Dach über dem Kopf hat, ist wirklich zu bedauern. Es ist unvorstellbar, wie man leidet, wenn obendrein das Wetter kühl und regnerisch ist. Wohl dem, der sich in solch einer schlimmen Situation zu helfen weiß! Ich denke da an den Helden meiner tragikomischen Erzählung, der dank seiner schier unglaublichen Körperbeherrschung mitten auf der Straße eine unkonventionelle Miniwohnung fand.

  Er war ein seltsamer Vogel mit vielen Eigenarten und Unarten, absonderlichen Ideen und komischen Angewohnheiten. Sein Name war Sam Small und er zählte zweiunddreißig Jahre. Vor langer Zeit hatte er während eines Urlaubs im Fernen Osten - ich bin nicht in der Lage zu sagen, wo genau - einen Guru kennengelernt und sich ihm sogleich angeschlossen. Doch nach drei Jahren ging Small wieder seiner Wege. Inzwischen hatte er aber einige nützliche Fertigkeiten erworben, darunter das Meditieren. Außerdem beherrschte er seither etwas, was Europäer sonst kaum beherrschen: Er war imstande, sich wann und wo auch immer in Trance zu versetzen. In diesem Zustand konnte er sich in einen kleinen Behälter zwängen und einige Zeit darin verharren. Durch tägliche Übung wurde er ein Meister auf jenem Gebiet.
  Sam Small war groß und muskulös. Seine Miene barg etwas Außergewöhnliches und Geheimnisvolles in sich. Sein breites Gesicht wurde durch eine dünne, weit vorspringende Nase geprägt. Der Abstand zwischen seinen Augen war zu groß. Die Lippen waren schmal und blass, die Wangen flach. Das halblange blonde Haar hatte er im Nacken liederlich zusammengebunden. Sein Gang wirkte feierlich und seine Art war ziemlich befremdend.
  Nun hatte Sam Small bisher eine kleine, schlichte Wohnung mit nur zwei winzigen Zimmern besessen, denn er war unverheiratet und ohne jegliche Pflichten und benötigte daher nicht viel Platz. Diese Wohnung hatte er jedoch heute Morgen räumen müssen, weil er die Miete nicht mehr aufbringen konnte. Jetzt saß er also auf der Straße. Wo sollte er bloß künftig übernachten? Noch war ja Sommer und es war angenehm mild. Was aber im Winter tun? Nachdenklich schlenderte er die schmutzige Gasse entlang. Es dämmerte langsam und die Nacht schlich unaufhaltsam heran. Überdies gesellte sich zur Finsternis ein unangenehm sprühender Nieselregen. So machte sich Small auf die Suche nach einem geeigneten Unterschlupf in diesem verwahrlosten Stadtviertel.
  Die Enge der Straßen wirkte bedrückend. Die Häuser waren grau und allesamt verfallen. Kaum ein Lichtstrahl drang bis auf die Gehwege hinunter. Auf den Bürgersteigen lagen Unrat und Abfälle. Auch standen dort schrottreife Haushaltsgeräte einfach so herum, zum Beispiel alte Fernseher und Radios, kaputte Sessel, deren Polsterfüllung bereits hervorquoll, Tische und Stühle mit zerbrochenen Beinen, Töpfe mit Löchern, gesprungenes Geschirr und ein großer Gasofen, der sicher schon seit einiger Zeit ausgedient, allerdings noch keinen Rost angesetzt hatte. Das gute Stück war in ein weißes Kleid aus Emaille gehüllt und hatte eine geräumige Backröhre mit einer Tür zum Verriegeln.
  Als Sam Small an jenem Herd vorüberkam, durchzuckte ihn plötzlich ein Gedanke: »Könnte ich mich nicht in Trance versetzen, mich in die Backröhre zwängen und darin die Nacht verbringen?«
  Gesagt, getan. Er kroch mühelos in den Gasherd, dessen Tür offen blieb.


* * *

  Als sich Sam Small in Trance befand, watschelte eine ältere, kugelrunde Frau herbei. Sie hatte ein aufgedunsenes Gesicht, ungepflegtes schwarzes Haar und wirkte ziemlich asozial. Mit abstoßend quäkender Stimme rief sie nach ihren Söhnen und der Tochter. Diese war das Ebenbild ihrer Mutter. Auch die drei Söhne sahen heruntergekommen aus. Zwei davon, die die Alte Chris und Jacob nannte, waren infolge übermäßigen Alkoholgenusses aufgeschwemmt und tapsten etwas beschränkt daher. Der dritte namens Kennard schien ein wenig klüger zu sein; zumindest stand ihm die Einfältigkeit nicht so ins Gesicht geschrieben. Er war groß und blond, vielleicht etwas zu dürr.
  Da die Simpsons knapp bei Kasse waren, suchten sie auf diesem illegalen innerstädtischen Schrottplatz nach einem neuen Gasofen.
  »Was ist mit dem hier?«, fragte die Alte ihre Sprösslinge. »Ich glaube, den sollten wir nehmen«, bestimmte sie und versetzte dem gut erhaltenen Exemplar mit ihrer fleischigen Hand einen gehörigen Schlag.
  Ohne auch nur einen einzigen Blick in die Backröhre zu werfen, schloss die Dicke den Herd und verriegelte die Tür. Die beiden feisten Söhne Chris und Jacob packten das sperrige Gerät und transportierten es schwitzend und schniefend in die nicht weit entfernt gelegene Bruchbude ihrer Mutter.
  In der ärmlichen Hütte angekommen, befahl Mrs Simpson ihrem Sohn Kennard sogleich: »Junge, du kannst ihn jetzt anschließen!«
  Der alte Herd wurde ausrangiert, denn er war endgültig hinüber. Den neuen montierte Kennard zwar zügig, doch stümperhaft an. Und kaum hatte er sein Werk vollendet, testete Mutter Simpson auch schon die Funktionsfähigkeit des Gerätes. Entzückt vom Geräusch des einströmenden Gases musterte sie mit Wohlwollen das gute Stück, das im Vergleich zu den anderen Einrichtungsgegenständen geradezu glänzte. Da unterbrach ein schrilles Kreischen, das von draußen kam, jäh ihre stille Freude.
  »Mutter, schnell!«, rief Tochter Mary.
  Durch den gellenden Schrei in Panik geraten, lief Mutter Simpson sofort hinaus auf die Straße. Ihre neunjährige Tochter Josephine war von einer Dogge angefallen und in den Arm gebissen worden.
  Mrs Simpson tröstete fürsorglich ihr weinendes Kind, während Mary sich lautstark mit dem Hundehalter stritt und ihre drei Brüder dem bösen Tier nachjagten, um es unverzüglich ins Jenseits zu befördern.
  Nachlässig, wie die Simpsons waren, kam es keinem von ihnen in den Sinn, dass das Gas noch immer in die Backröhre strömte - in der Sam Small, in Trance versetzt, sein Leben aushauchte.

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