Tabaka Derby Messer's Gesammelte Horrorgeschichten - Band I
Siebzehn Gruselgeschichten       ©  2005  Heike Hilpert, Selbstverlag
 Titel
 Vorwort
 Inhalt
 Der Mann mit dem Messer
 Das Gespensterschloss
 In Trance
 Der untrügliche Beweis
 Eine ungewöhnliche Hochzeitsnacht
 Der Whiskyvampir
 Spieglein, Spieglein an der Wand
 Die Sterne lügen nicht
 Blumen für Mr Carmichael
 Der Schlüssel
 Ein eleganter Pelz
 Maskerade
 Das Bauopfer
 Das Leben nach dem Tode
 Television City
 Der Vegetarier
 Im Schatten
 Information zur Autorin
 Literaturhinweis
 Impressum
Der Whiskyvampir

  Falls Sie zu meiner treuen Leserschaft gehören und meine köstlichen und weniger köstlichen Geschichten aufmerksam verfolgt haben, dann sind Sie im Laufe der Zeit bereits einigen unheimlichen und abstoßenden Geschöpfen begegnet. Heute wartet wieder ein Ungeheuer auf Sie, nämlich eines aus der weitverzweigten Familie der Vampire. Vielleicht sind Sie jetzt enttäuscht, weil Sie meinen, schon viel zu viele Erzählungen über Vampire gelesen zu haben und wahrlich alles vom Vampirismus und von seinen Vertretern zu wissen. Sie irren sich! Ich wäre wohl nicht ich selbst, würde ich mir erlauben, Sie mit den herkömmlichen, farblosen Blutsaugern zu langweilen.
  Nun möchte ich schnell noch vorausschicken, dass ich es aus Rücksicht auf die Einwohner bewusst vermeide, die kleine Stadt zu nennen, wo sich die folgende Geschichte zutrug. Auch habe ich die Namen der Akteure geändert und jede Ähnlichkeit mit lebenden Personen kann nur einer Laune des Zufalls entspringen.
  Hiermit eröffne ich Ihnen ein weiteres Geheimnis aus der Welt des Grauens in Form einer unglaublichen Episode und mache Sie mit einer bisher unerforschten Gattung der Vampire, dem Whiskyvampir, bekannt. Habe ich Ihre Neugier geweckt? So ziehen Sie geschwind einen unauffälligen dunklen Mantel über und begleiten Sie mich an den Ort des Schreckens.

  »Die arme Mrs Morris!«, jammerte eine kleine, mollige Frau in Schwarz scheinheilig. »Noch so jung und schon den Mann verloren!« Einen Augenblick später fügte die Alte besserwisserisch hinzu: »Na ja! Bei dem Lebenswandel ist es kein Wunder. Jeden Tag war er betrunken, dieser Morris. Es musste so kommen über kurz oder lang.«
  Mrs Hicks kannte sich da aus. Sie fehlte auf keiner Trauerfeier, so freilich auch heute nicht. Des Öfteren hatte sie Mrs Morris prophezeit, dass es mit ihrem Mann ein böses Ende nehmen werde, und nun war es geschehen. Auf leisen Sohlen hatte sich Freund Hein herangeschlichen und sich der Trinkerseele des Mr Morris bemächtigt. Damit bestätigte sich zum wiederholten Male eine Weissagung der fürs Tratschen und Kartenlegen berüchtigten Frau.
  Selbst die hartnäckigsten Zweifler, die sich entschieden gegen alles wandten, was sie nicht begriffen oder aus Prinzip nicht begreifen wollten, mussten zugeben, dass Mrs Hicks sich äußerst selten irrte. Trotzdem schenkte man ihren Worten meistens wenig Beachtung - so wie dieses Mal, als sie beteuerte, ja zu schwören bereit war, dass der Tod für Mr Morris keineswegs das Ende sei, dass es noch schlimmer kommen werde, dass solch einer sündhaften Seele wie der des Mr Morris im Himmel kein Platz zustehe, dass solch eine Seele verdammt sei auf ewig. Es ist wohl verständlich, dass die Antwort darauf nur Gelächter war, soweit sich dies bei einer Beerdigung schickte. Die Witwe indes fand das gar nicht komisch. Sie war zutiefst gekränkt durch jene unpassende, ihren verblichenen Gatten verunglimpfende Äußerung und lud Mrs Hicks kurzerhand vom Leichenschmaus aus - sehr zur Freude der Trauergemeinde, die das Geschwätz der Alten einhellig verurteilte.

* * *

  Inzwischen waren viele Jahre vergangen, um nicht zu sagen, Jahrzehnte. Mrs Hicks und Mrs Morris waren längst verstorben; Mr Morris war ganz vergessen. Friedlich hatte er all die Zeit im Grab geruht - auf einmal rumorte es! Dann donnerte es lauter als Gewitter, denn das Klopfen eines Spatens drang bis in die Tiefe hinab und riss ihn aus dem ewigen Schlaf; wenig später wurde seine hölzerne Behausung erschüttert. Schließlich hievten zwei Totengräber den gut erhaltenen Sarg aus der Erde und stellten ihn am Wegrand ab. Kaum hatten sie sich entfernt, stemmte Morris mit aller Kraft seine dürren, knochigen und mit einer ledrigen, bleichen Haut überzogenen Hände gegen den Sargdeckel und siehe da! Die verrosteten Nägel zerbrachen. Der Deckel öffnete sich. Welch ein Wunder - er war frei! Behände sprang er aus seinem Sarg, entschlüpfte durch die Büsche und rannte in völliger Verwirrung durch die einsamen, öden Straßen der kleinen Stadt.
  Es war eine schöne, finstere Nacht. Schwarz war der Himmel bei Neumond. Unzählige silberne Sterne blinkten prächtig am Firmament. Die kalte, klare Luft roch frisch und würzig. Kräftig blies der Wind. Obwohl auch hier absolute Stille herrschte, schien doch alles voller Leben. Selbst die Häuser atmeten. Das Leben - Morris vermochte sich nur vage daran zu erinnern. Und am meisten erschauerte ihn, was zwischen seiner vormaligen menschlichen Existenz und der Gegenwart lag: der Tod.
  So schritt er die Gassen entlang und sog die kühle Nachtluft ein, dass seine Nasenflügel bebten. Sein hagerer Körper wirkte ausgemergelt. Er war groß und mager, trug einen eleganten und recht altertümlichen schwarzen Anzug, dazu ein schneeweißes Hemd mit steifem Kragen und Krawatte. Sein dünnes schwarzes Haar war mit fettiger Pomade an den kantigen, länglichen Kopf geklebt. Die hohe Stirn, der aschfahle Teint, der blasse, eingefallene Mund, die kleinen, farblosen Augen, die markanten Wangenknochen und die spitze Nase verliehen ihm das Aussehen eines Raubvogels.
  Morris war noch sehr schwach auf den Beinen; deshalb ließ er sich auf der Vortreppe eines alten Hauses nieder. Als er so dasaß und nachdachte über das Wunder, das ihm widerfahren war, merkte er, dass irgendetwas mit ihm nicht stimmte, irgendetwas anders war als früher. All seine Glieder erstarrten. Er betrachtete seine Hände. Sie erschienen ihm schrecklich bleich und die blauen Adern traten hervor. Doch sie verbreiteten keine angenehm pulsierende Wärme, sondern nur Kälte. Nicht milchig rosa war seine Haut, sondern gelblich grau. In diesem Moment wurde ihm klar, dass ein Fluch auf ihm lag. Er war eine lebende Leiche, ein Untoter, ein Körper ohne Seele - ein Schreckgespenst!
  Traurig erhob er sich und setzte seinen Weg fort. Er suchte seiner Verzweiflung durch Tränen Platz zu machen, aber er hatte keine Tränen mehr. Sein Schluchzen hörte sich an wie das Heulen eines Wolfes. Plötzlich biss er sich auf die Zunge, woraufhin sich unverhofft der altvertraute Geschmack von Whisky breitmachte. Erschrocken und vor Schmerz halb von Sinnen, hielt er die Hand vor den Mund, in der Annahme, dass sich ein Strom von Blut ergießen müsse. Weit gefehlt! Whisky war es, was aus seinem Munde rann. Whisky war es also, was in seinen Adern floss.
  Schlimmes ahnend, ließ Morris die Zunge über sein Gebiss gleiten. Der obere rechte Eckzahn hatte sich völlig verändert! Er hatte sich in einen langen, hohlen Saugzahn verwandelt, der spitz wie eine Nadel war. Vorsichtig betastete Morris ihn mit dem Zeigefinger. Tatsächlich war er fest im Kiefer verankert.
  »Nein! Nein! Das kann doch alles nur ein böser Traum sein!«, wimmerte er leise. Er konnte es einfach nicht glauben, er musste es sehen. Gleich da vorn war eine Kneipe. Vielleicht gab es ja drinnen einen Spiegel. Angsterfüllt schleppte er sich zum Wirtshaus und trat ein. In gewohnter Manier steuerte er sofort auf den Schankwirt zu.
  »Einen Whisky pur«, verlangte er.
  Erst als er diesen schon halb ausgetrunken hatte, fiel Morris ein, dass er gar kein Geld dabeihatte. Heimlich gedachte er sich daher aus dem Staube zu machen, aber der Wirt hatte Routine im Umgang mit Zechprellern und hielt ihn ziemlich unsanft zurück.
  »Bezahlen Sie den Whisky oder Sie verlassen das Lokal im Sarg!« Anscheinend hatte der Mann hinterm Tresen eine gehörige Portion schwarzen Humor.
  »Ich verfüge nicht über Geld«, antwortete Morris, fast flüsternd.
  »Und wovon leben Sie dann?«, fragte der Wirt halb spaßend, halb zornig, denn er dachte, der Gast nehme ihn auf den Arm.
  »Ich bin kein gewöhnlicher Sterblicher«, entgegnete Morris gleichgültig.
  »Der ist ganz schön angeheitert!«, murmelte der Kneipier kopfschüttelnd im Selbstgespräch, aber bereits versöhnlich gestimmt. »Was ist mit dem goldenen Ring da an Ihrer Hand?«, erkundigte sich der kleine, drahtige Mann mit dem feuerroten Haar und dem borstigen Schnauzbart. »Ich nehme ihn als Pfand. Wenn Sie Ihren Whisky bezahlt haben, bekommen Sie ihn zurück.«
  Schweigend willigte Morris ein und zog den mit einem großen Achat verzierten Ring vom Finger.
  Mit einem hinterhältigen Lächeln auf dem geizigen Gesicht warf der Wirt den unliebsamen Gast hinaus.
  »Das war ein Reinfall!«, fauchte Morris. Hier hatte er nicht gefunden, was er ursprünglich gesucht. So musste er es eben in der nächsten Kneipe noch einmal probieren.
  Und er hatte Glück: Schon wenige Häuser weiter war ein anderer Pub, wo er richtig zu sein schien, denn bereits vom Eingang aus sah er einen riesigen Spiegel an der Wand blinken. Ohne jemanden wahrzunehmen oder einen Drink zu bestellen, lenkte er sofort seine Schritte dorthin.
  Ein Blick genügte und Morris drohte hinzusinken, aber ein hilfsbereiter, wenn auch beschwipster Mann ging auf ihn zu und stützte ihn im letzten Moment. Der nichts ahnende Gast schaute auf das Spiegelbild, doch das zeigte nur ihn selbst! Vor Schreck zitternd, ließ er Morris los. Während dieser wie versteinert auf dem Fleck verharrte und in den Spiegel starrte, schwankte der höfliche Trunkenbold und fiel ohnmächtig zu Boden.
  Nun entstand großer Tumult. Die Kameraden beugten sich über ihren bewusstlosen Freund, tätschelten ihm die Wangen, redeten oder vielmehr lallten auf ihn ein, hielten ihm Alkohol unter die Nase und hatten somit alle Hände voll zu tun. Morris nutzte den Wirrwarr und stürzte aus dem Lokal. Er rannte, stolperte davon. Total erschöpft blieb er im matten Lichtschein einer Straßenlaterne stehen - er warf keinen Schatten.
  »Kein Blut«, raunte er voller Entsetzen, »kein Spiegelbild, kein Schatten! Ich bin ein Gespenst, ich bin ein - Vampir!«
  Ihm schien sich alles im Kreis zu drehen. Diese grässliche Erkenntnis, die so endgültig war, nicht die geringste Hoffnung und keinen Ausweg ließ, die Vorstellung, für immer und ewig umherirren zu müssen - nicht lebendig und nicht tot -, das war einfach zu viel. Verzweifelt taumelte Morris von dannen.
  Tiefe Stille. Kein Laut war vernehmbar. Warum nur hörte er seine Schritte nicht? Schwebte er etwa? Aber nein! Geisterschritte sind nun einmal geräuschlos. Oh, wie er bereute! Für all die Sünden, die sich zeit seines Lebens angehäuft hatten, musste er jetzt büßen, indem er als Vampir umging.
  In diesem Moment fühlte Morris eine sonderbare Regung in der Magengegend. Sollte das Hunger sein? Oder Durst? Ja, es war eine Art Durst, doch nicht auf Blut, wie es bei den Vampiren sonst üblich ist, sondern auf Alkolhol, dem er ja schon zu seinen Lebzeiten verfallen war. Whisky brauchte er, und zwar gleich, aber er hatte kein Geld, sich welchen zu kaufen. Da entsann er sich des hohlen Zahnes, der den Platz seines Augenzahns eingenommen hatte. Es war an der Zeit, ihn zu benutzen.
  Während er so durch die Gassen schlenderte, stolperte in einiger Entfernung vor ihm ein Betrunkener aus einer Schenke. Unsicher torkelte der dürre Mann mit dem schäbigen braunen Mantel die Straße entlang. Kaum noch bei Sinnen, wankte der Kerl von einer Seite auf die andere, trottete unbeholfen hin und her, tastete sich an der Hausmauer vorwärts, tänzelte bald auf der Bordsteinkante.
  Hier sah Morris seine Chance. Er schlich eine Weile, so unauffällig er es vermochte, dem Unbekannten hinterher. Als er seinem Opfer nahe genug war, ging er zum Angriff über. Mit einem Satz warf er sich auf den Unglücklichen, der gar nicht wusste, wie ihm geschah. Erst brachte Morris den krakeelenden Säufer mit einem brutalen Schlag auf den Hinterkopf zum Schweigen; dann beugte er sich über den bewusstlosen und daher wehrlosen Mann, der am Boden lag, legte seinen Hals frei und bohrte gierig den Saugzahn hinein. Durch den fürchterlichen Schmerz wieder zur Besinnung gekommen, schrie der Arme wie am Spieß. Darauf wurde jedoch keiner aufmerksam, denn Betrunkene schreien ja häufig ohne ersichtlichen Grund.
  Als Morris seinen Durst gestillt und den Alkohol aus seines Opfers Adern gesogen hatte, ließ er den geschockten Schluckspecht auf der Straße liegen und lief eiligen Schrittes davon. Sein Weg führte ihn zurück zum Gottesacker, wo sein Sarg noch immer stand. Bald würde der Morgen grauen, dann brauchte er einen neuen Unterschlupf. Deshalb musste er die hölzerne Behausung wegschaffen, und zwar an einen einsamen, möglichst unzugänglichen Ort. Der Vampir verspürte nie da gewesene Kräfte in seinem Körper. Also packte er den Sarg, hob ihn hoch und schleppte ihn aus dem Friedhof hinaus bis zum Stadtrand. Dort suchte er nach einer sicheren Ruhestätte und wurde schließlich in einem abseits gelegenen, baufälligen Haus fündig.

* * *

  Unterdessen waren zwei Kumpane des Säufers herbeigekommen. Trotz ihrer Trunkenheit waren sie ziemlich bestürzt über den Zustand ihres Freundes, der wenige Minuten zuvor offenbar einem höchst seltsamen Verbrechen zum Opfer gefallen war. Mit nicht geringer Mühe halfen die Kameraden ihm auf und zu dritt schwankten sie letzten Endes nach Hause. Unser alter Bekannter war zwar noch etwas schwach auf den Beinen, aber dafür wieder nüchtern. Nur der bohrende Schmerz am Hals machte ihm zu schaffen.
  Daheim angelangt, warf der Leidgeprüfte einen Blick in den Spiegel und entdeckte an seinem Hals ein Wundmal - ein kleines, tiefes Loch, aus dem allerdings kaum Blut austrat. Stattdessen entsprang dort ein dünnes Rinnsal von Alkohol! Dem Armen standen vor Entsetzen die Haare zu Berge, als er sich nun an den unheimlichen Vorfall erinnerte. Der Fremde hatte ihn überwältigt und in den Hals gebissen. Wer war das nur gewesen? Ein Vampir?!
  Daraufhin erlitt der Trinker einen Nervenzusammenbruch, und es dauerte eine Weile, bis er völlig wiederhergestellt war. Dann zog er aus der schaurigen Begebenheit eine Lehre: Er wurde Antialkoholiker.

* * *

  Seither verbrachte Morris, der Whiskyvampir, die Tage brav im Sarg; in den Nächten aber lief er umher, stets auf der Suche nach einer geeigneten Whiskyquelle, denn Alkohol war sein Elixier. Er allein gab ihm die Kraft, seine verachtenswerte Existenz aufrechtzuerhalten.
  Lange Zeit ging Morris im Viertel um, obgleich ihm angesichts des mangelnden Angebots von geeigneter Nahrung der Magen merklich knurrte. Daher blieb ihm nichts anderes übrig, als sein Wirkungsfeld auszudehnen und auch die umliegenden Ortschaften unsicher zu machen. Das sprach sich natürlich bald herum, so dass sich in der Dunkelheit kaum noch jemand aus dem Haus traute. Dass es sich bei den Opfern ausnahmslos um Betrunkene handelte, wurde vor allem von den Alkoholgegnern mit Belustigung und Schadenfreude aufgenommen. Die Kneipen und Bars wurden von Nacht zu Nacht leerer und an manchen Tagen blieben die Gäste sogar ganz aus. So verwandelte sich die gemütliche kleine Stadt nach und nach in ein Nest verschworener Abstinenzler.

* * *

  Eines Tages plötzlich - es kam wie ein Blitz aus heiterem Himmel - peinigte Morris ein bohrender Zahnschmerz. Dieser plagte ihn wieder und wieder, Nacht für Nacht, Woche für Woche. Schließlich hielt er es nicht mehr aus. Er suchte einen Zahnarzt auf und war so frei, den guten Mann um Mitternacht aus dem Bett zu klingeln.
  »Wer ist denn da?«, rief der junge Doktor Lawson verschlafen zum Fenster hinaus.
  »Ein Sonderfall«, antwortete der Vampir.
  »Gedulden Sie sich ein wenig!«, vertröstete der Arzt den nächtlichen Patienten. »Ich komme sofort hinunter.«
  Einige Minuten später ließ der Dentist den »Sonderfall« ein, der von den vorangegangenen Qualen gezeichnet war. Bestimmt wies er Morris in den Behandlungsraum, der sich im Erdgeschoss des Hauses befand.
  »Nehmen Sie schon mal Platz!«, befahl der Doktor. »Wo tut's denn weh?«
  Vorsichtig tippte der Vampir mit dem knochigen Zeigefinger an den kranken Zahn.
  »Aha!«, murmelte Lawson. »Das haben wir gleich. Machen Sie es sich doch bequem! Ich bereite inzwischen eine Betäubungsinjektion vor.«
  »Eine Spritze?«, erschrak Morris. »Ich - wissen Sie, Doktor - ich vertrage keine Spritzen.«
  »Aber ohne ...!«, widersprach der Arzt kopfschüttelnd und strich sich mit den Fingern durchs strohblonde Haar. »Das wird sehr wehtun«, meinte er stirnrunzelnd.
  »Haben Sie vielleicht Whisky?«, erkundigte sich Morris listig. »Der hilft.«
  »Moment!«, bat Lawson, der Dentist. Flink verschwand er in den Keller, holte eine Flasche Whisky herauf und bot sie seinem hocherfreuten Patienten an.
  Der Schluss ist schnell erzählt. Morris betäubte sich mit Alkohol und Lawson ging ans Werk. Behutsam und äußerst geschickt zog er den kariösen Zahn.
  »Nanu!«, wunderte sich der Doktor. »Was ist denn das für ein unnatürlich großes Ding?« Und mit einem Ruck riss er Morris den Saugzahn aus.
  In diesem Augenblick ging mit dem Vampir eine gräuliche Verwandlung vor. Binnen Sekunden wurde seine Haut schlaff und ledrig, eine knittrige Hülle, die Pergamentpapier ähnelte. Morris' Knochen zerbarsten, als wären sie aus morschem Holz. Sein Fleisch trocknete wie im Zeitraffer aus und verdorrte. Der ganze Körper zerfiel schließlich in seine Bestandteile. - Alles, was vom Whiskyvampir blieb, war ein unbedeutendes, graues, qualmendes Häufchen Asche, das sich in Staub auflöste.

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